Vergangene Schatten
Er hatte sich nach dem Hund umgeblickt, um nicht in die falsche Richtung zu laufen. Aber es war mitten in der Nacht, und unter den Bäumen, zwischen denen er stand, war es dunkler als in einem Grab. Da war nichts zu sehen als Baumstämme und Büsche und weiter oben auf dem kleinen Hügel das große weiße Haus, aus dem er kurz zuvor vertrieben worden war.
Doch er konnte den Hund sehr wohl hören mit seinem durchdringenden Gekläff.
»Hugo!«
Es war eine Frauenstimme, die nach dem Tier rief. Er hatte sich nach der Stimme umgeblickt und die dunkle Silhouette der Frau vor dem Haus entdeckt. Sie lief wohl dem Hund nach, der ganz eindeutig nicht hinter ihm her war. Das Kläffen bewegte sich in eine andere Richtung. Nachdem er wenigstens diese Sorge los war, stand er regungslos da und beobachtete die Frau. Er beschloss zu warten, bis sie weg war. Ob es wohl die Frau war, auf die er im Esszimmer getroffen war? Wahrscheinlich war sie es; wie viele Frauen konnten sich schon auf dem Gelände aufhalten, das vorher völlig menschenleer gewesen war? Aber sicher konnte er sich nicht sein. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie drehte sich um, so als blicke sie zu ihm herunter. Er wusste, dass er gut verborgen war und dass sie ihn unmöglich erkennen konnte - doch er hatte trotzdem das Gefühl, dass sie irgendwie wusste, wo er sich befand. Er schlüpfte rasch hinter einen Baum - für den Fall, dass er doch besser zu erkennen war, als er gedacht hatte als sie plötzlich einen lauten Schrei ausstieß und in die Richtung loslief, aus der sie gekommen war.
Er erschrak und begann seinerseits zu laufen, weg von ihr und zur Straße hinunter. Da waren heute Nacht zu viele Leute unterwegs; es war besser, sich aus dem Staub zu machen. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, dass man ihn sah und möglicherweise sogar erkannte.
»Carly! Carly! Verdammt, Carly!«, rief eine männliche Stimme, die ihn innerlich erbeben ließ - nein, nicht die Stimme, sondern der Name, den sie rief: Carly. Er erreichte die Straße und hielt kurz inne, um zurückzublicken. Nein, sagte er sich, sprang über den Straßengraben und lief über die Straße und in den Waldstreifen hinein, der das Naylor-Grundstück begrenzte. Nicht heute Nacht. Nicht wenn halb Benton auf den Beinen war, um nach ihm zu suchen. So eilig hatte er es auch wieder nicht. Und er war ganz gewiss nicht so dumm, dass er so unüberlegt handeln würde.
Nein, seine Zeit würde schon noch kommen. Er würde bald zurückkommen.
Denn Carly war der Name des letzten Mädchens, hinter dem er her war. Er hatte bislang vergeblich nach ihr gesucht - zuletzt in einem noblen modernen Wohnhaus in Chicago, der letzten Adresse, die er von ihr hatte ausfindig machen können. Er war heute Abend zum Beadle Mansion gekommen, um nach irgendeinem Hinweis zu suchen, wo sie sich im Moment aufhalten könnte, einem Adressbuch, einer Telefonnummer, einem Brief oder einer Rechnung, die ihm hätte verraten können, wohin sie gegangen war.
Wenn das hier die Frau war, die er suchte - und er zweifelte eigentlich nicht daran -, dann schien ihm nach einigen Tiefschlägen das Glück wieder hold zu sein. Das Schicksal hatte sie ihm direkt vor die Nase gesetzt. Er würde vorsichtig vorgehen müssen, doch er würde tun, was zu tun war.
Eines Nachts in der nicht allzu fernen Zukunft würde dieses Mädchen, wenn sie wirklich die Carly war, die er suchte, auf Nimmerwiedersehen verschwinden, genauso wie die anderen auch.
Dann würde er die Vergangenheit endgültig hinter sich lassen und voller Zuversicht ein neues Leben beginnen können.
9
Als Carly schreiend um die Hausecke bog, sah sie, wie Matt auf sie zugerannt kam.
»Matt!« Sie flog förmlich zu ihm hin, wie von einem Katapult geschleudert.
»Er ist hier! Er ist hier!«, rief sie außer sich und warf sich ihm so stürmisch in die Arme, dass er einen Schritt zurücktaumelte.
Seine Arme schlössen sich um sie, und sie wusste, dass sie in Sicherheit war. Er hatte im Laufen seine Pistole gezogen; sie spürte den harten Gegenstand, der sich gegen ihre Hüfte drückte. Zitternd und keuchend schloss Carly die Augen, schlang die Arme um seine Taille und barg ihr Gesicht an seiner Brust. Sie hatte solche Angst, dass sie sich nicht einmal mehr umzublicken wagte.
Würde er auf den Mann schießen? Würde der Mann stehen bleiben, wenn er die Pistole sah?
»Großer Gott, du hast mir heute schon solche Angst gemacht, dass es mich wahrscheinlich zehn Jahre meines
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