Vergangene Schatten
dicht standen. Ja, er war da. Sie konnte ihn nicht sehen, doch sie wusste es mit einer Sicherheit, die ihr kalte Schauer über den Rücken jagte. Ihr Herz pochte jetzt so heftig, dass sie nichts anderes mehr hören konnte.
Der Mond blickte teilnahmslos auf sie herab - gleichgültig gegenüber ihrer Not, und die Insekten summten und sangen immer lauter ...
Plötzlich war er da. Zuerst sah sie ihn nur aus dem Augenwinkel, wie er dreißig oder vierzig Meter rechts von ihr auftauchte. Sie hielt den Atem an und drehte sich jäh um. Starr vor Angst verfolgte sie mit offenem Mund, wie die riesige dunkle Gestalt auf sie zugestürmt kam. Mit einem Mal war er ganz nah - so nah, dass sie spürte, wie der Boden unter seinen Schritten erzitterte, so nah, dass sie den Widerschein des Mondlichts auf seiner silbernen Gürtelschnalle sah, so nah, dass sie sein schweres Atmen hören konnte.
Carly schrie aus Leibeskräften und rannte los.
8
Der Hund. Es war wieder dieser Hund. Abgrundtiefer Hass überkam ihn, als er ihn in der Dunkelheit kläffen hörte. Das verdammte Vieh war also nicht gestorben und auch nicht fortgelaufen. Der Mann hatte das durchdringende Gekläff sofort wieder erkannt. Die Dinge verliefen für ihn in letzter Zeit wie auf einer Berg-und-Tal-Bahn - es gab extreme Höhen und Tiefen. Der Hund war nicht wirklich einer dieser Tiefpunkte - so wichtig war er nicht, schließlich war er nur ein Hund aber Marsha war eindeutig ein solcher Tiefpunkt für ihn gewesen, und der Hund gehörte irgendwie zu ihr. Marsha hatte das bekommen, was sie verdiente. Wenn sie den Mund gehalten hätte, dann wäre ihr nichts passiert - aber nein, sie wurde unverfroren, und darum hatte sie ihr Schicksal selbst besiegelt. Die, die nach Marsha gekommen war - Soraya hatte sie geheißen -, hatte den Pakt, soweit er wusste, nicht gebrochen, und darum hatte er auch ein klein wenig schlechtes Gewissen, was sie betraf - aber nach Marshas Verrat konnte er einfach kein Risiko mehr eingehen. Es gab noch eine Einzige - ein Mädchen, das er finden und für immer zum Schweigen bringen musste, und wenn er das erledigt hatte, dann würde er endlich frei sein.
Der Hund war keine Gefahr für ihn, aber er ging ihm ganz einfach auf die Nerven. Der Gedanke, dass dieses Tier wusste, was er getan hatte, machte ihn irgendwie verwundbar, auch wenn es sich noch so dumm anhören mochte. Er wollte, dass das Vieh tot war. Er war vor der heutigen Nacht schon mehrmals zu dem Maisfeld zurückgekehrt, in dem der Hund verschwunden war, um nach ihm zu suchen - aber bis jetzt hatte er nicht einmal einen Pfotenabdruck von ihm entdeckt. Zuerst war ihm der Hund ziemlich gleichgültig gewesen, so wie Marsha und die anderen Mädchen ihm gleichgültig waren. Er hatte sich gesagt, dass er sie vergessen würde, dass sie für ihn Vergangenheit waren und mit seinem Leben nichts mehr zu tun hatten.
Doch dann war Marsha plötzlich wieder aufgetaucht - wie eine Schnecke, die unter einem Stein hervorkriecht. Und jetzt war auch der Hund wieder aufgetaucht. Vielleicht war das Tier schon da gewesen, als er die versperrte Hintertür von Beadle Mansion mit einer Kreditkarte geöffnet hatte - gesehen hatte er es jedenfalls nicht. Er war mitten in seiner Suche unterbrochen worden - aber nicht von dem Hund, sondern von zwei Frauen. Es war ganz einfach Pech gewesen, dass eine von ihnen im Esszimmer gegen ihn gestoßen war; und noch größeres Pech war es, dass der Sheriff in der Nähe war und ihnen zu Hilfe kam.
Aber er war immer noch schnell auf den Beinen und hatte entkommen können, indem er es genauso machte wie der Hund und sich im Maisfeld versteckte. Es war ziemlich brenzlig geworden, als die Sheriff-Stellvertreter auftauchten und mit ihren Taschenlampen zu suchen begannen, aber er hatte sich auch von ihnen nicht schnappen lassen. Er war schon zur Straße hinuntergelaufen, wo er seinen Wagen versteckt hatte, als plötzlich das verhasste Gebell hinter ihm losging.
Kläff, kläff, kläff. Kläff, kläff, kläff, kläff, kläff.
Das durchdringende Gebell, das wie aus dem Nichts kam, ließ ihn erschrocken herumwirbeln. Es klang wie ein Chihuahua unter Drogeneinfluss; es gab keinen Zweifel, dass es sich um den Hund handelte, und auch nicht daran, dass er irgendetwas oder irgendwen verfolgte. Einen Moment lang hatte er schon gefürchtet, der Hund könnte hinter ihm her sein, eine vierbeinige Rachegöttin, die gekommen war, um den Sheriff und seine Stellvertreter auf ihn aufmerksam zu machen.
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