Vergangene Schatten
sich Carly wieder darauf, die Zwiebeln so dünn zu schneiden, wie Sandra es von ihr haben wollte. Nur weil in diesem winzigen Städtchen jeder sich in die Angelegenheiten seiner Mitmenschen einmischte, hieß das noch lange nicht, dass sie es genauso machen musste. Dass sie nach Benton zurückgekehrt war, bedeutete nicht, dass sie alles übernehmen musste, was hier Brauch war.
Die vielen Gäste zum Abendessen waren zwar durchaus willkommen - sie kamen aber doch ziemlich unerwartet. Es gab allerdings einen, den Carly in ihrem tiefsten Inneren erwartete, zumal schon seine Schwester und seine beiden Stellvertreter hier waren. Carly gestand es sich selbst nicht ein, dass sie darauf wartete, jeden Moment Matts Stynme zu hören und ihn in ihrem Haus zu sehen. Den ganzen Nachmittag überlegte sie, wie sie auf sein Kommen reagieren würde. Als schließlich das Mahl im Esszimmer serviert wurde, wo ein Tisch stand, der groß genug war, um allen anwesenden Gästen Platz zu bieten, blickte Carly immer wieder zur Tür, in der Erwartung, Matt eintreten zu sehen.
Nicht, dass sie ihn hätte sehen wollen. Sie erwartete einfach nur, dass er kommen würde. Was, wie sie sich versicherte, absolut nicht dasselbe war.
Als schließlich die verschiedenen Lampen den Raum erhellten, hatte das Esszimmer mit seinen vielen Gästen absolut nichts mehr von der gespenstischen Atmosphäre der vergangenen Nacht an sich. Als die Gäste sie drängten, ihr Erlebnis mit dem Einbrecher zu erzählen, kamen ihr im Nachhinein einige Details des Vorfalls sogar ein wenig komisch vor. Die nackte Angst, die sie in jenen Momenten gepackt hatte, trat immer mehr in den Hintergrund, und es kam ihr nun selbst so vor, als hätte sie einfach ein wenig hysterisch reagiert. Der Winkel, in dem der Eindringling gelauert hatte, war nun nicht mehr dunkel und unheimlich; es war ganz einfach ein Winkel in einem Raum, wo sich ein glückloser Einbrecher verborgen hatte und entdeckt worden war. Alle lachten herzlich über die Rolle, die Hugo in der Geschichte spielte. Auch das, was Carly über Sandra und Matt zu erzählen hatte, sorgte für allgemeine Heiterkeit. Noch größer war das Gelächter, als Mike überaus anschaulich beschrieb, wie Matt sich bemüht hatte, Hugo vom Baum herunterzuholen.
Währenddessen gingen Carlys Gedanken jedoch in eine etwas andere Richtung. Sie sah wieder vor sich, wie sie in ihrer Angst bei Matt Schutz gesucht hatte, wie er sie tröstete und in den Armen hielt. Und auch wie er sie küsste und dann einfach so von ihr wegging - weil sie Freunde waren, wie er sich ausdrückte, und deshalb nicht miteinander schlafen könnten.
Jedes Mal, wenn sie sich daran erinnerte, begann es in ihr von neuem zu brodeln.
Seinen Briefkasten umzufahren war nicht annähernd das, was er verdient hätte, dachte sie vor Wut schäumend. Er hatte es verdient, dass man ihn ...
Ihr fiel nichts ein, das schlimm genug war. Aber eines Tages würde er seine gerechte Strafe schon noch bekommen.
»Dann schneide ich jetzt mal den Kuchen an«, sagte sie in die Runde, nahm ihren Teller und flüchtete sich aus der allgemeinen Fröhlichkeit in die Stille und Einsamkeit der Küche. In ihrer Wut war sie sich absolut sicher, dass sie mit Matt nicht das Geringste mehr zu tun haben wollte - und dennoch machte es sie rasend, dass er nicht gekommen war, um ihnen beim Einzug ins Haus zu helfen oder um zu sehen, wie sie zurechtkamen. Wahrscheinlich, so sagte sie sich, lag das daran, dass sie sich schon so darauf vorbereitet hatte, ihm ordentlich die Meinung zu sagen. Sie musste einfach noch die Möglichkeit haben, selbst einen Schlussstrich zu ziehen und ihm in aller Deutlichkeit zu sagen, dass sie ihn sowieso nicht haben wollte.
Als sie zum Spülbecken ging, um die Überreste auf ihrem Teller in den Müllschlucker zu befördern, sah sie Hugo, der schließlich doch noch vom Baum heruntergekommen war, auf dem Kühlschrank sitzen und wie gebannt aus dem Fenster starren. Ihr erster Gedanke war, dass Hugo wieder einmal seinem Lieblingszeitvertreib frönte - dem Beobachten von Vögeln.
Doch dabei saß er normalerweise nicht so still und angespannt da wie in diesem Augenblick.
Carly sah ebenfalls aus dem Fenster. Draußen erstreckte sich der große Garten bis hin zu dem schwarz gestrichenen Schuppen und dem Maisfeld dahinter. Eine leichte Brise war aufgekommen, in der sich der hohe Mais wiegte. Es war gegen acht Uhr abends, also ungefähr zwei Stunden, bevor die Nacht hereinbrach. Es war nicht
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