Vergangene Zukunft
Kanton. In Kanton, China. Und zwei- bis dreimal pro Woche benutzt er das Tor sogar auch, um in die Schule zu gelangen.«
»Freiwillig? Und es hat ihm nichts ausgemacht?«
»Nun ja«, sagte Mrs. Hanshaw widerstrebend, »er schien sich nicht ganz wohl dabei zu fühlen. Aber wirklich, Doktor, es hat wenig Sinn, lange drum herumzureden, nicht wahr? Untersuchen Sie ihn bitte, und dann werden wir ja sehen, wo seine Schwierigkeiten liegen. Ich bin überzeugt, es handelt sich nur um eine Kleinigkeit. Eine schnelle psychiatrische Routineuntersuchung genügt sicher.«
Dr. Sloane seufzte. Er haßte das Wort »Routineuntersuchung«. Es gab kaum ein Wort, das er in seinem Leben schon öfter gehört hatte.
»Mrs. Hanshaw«, sagte er geduldig. »Eine schnelle Routineuntersuchung gibt es nicht. Ich weiß, daß die Zeitschriften voll davon sind, und in gewissen Kreisen begeistert man sich dafür, aber die Sache wird überschätzt.«
»Meinen Sie das ernst?«
»Allerdings. Die Routineuntersuchung ist sehr kompliziert. Dabei werden die Aktionswellen des Gehirns aufgezeichnet. Die einzelnen Zellen des Gehirns sind auf verschiedenen Wegen miteinander verbunden. Manche dieser Verbindungswege werden häufiger benutzt, andere weniger häufig. Auf diese Weise kann man die Denkgewohnheiten eines Menschen feststellen, die bewußten und unbewußten. Theoretisch ist erwiesen, daß man mit Hilfe der Aufzeichnung dieser Verbindungswege zwischen den einzelnen Gehirnzellen schon frühzeitig und mit großer Sicherheit das Auftreten einer geistigen Erkrankung feststellen kann.«
»Ja, und?«
»Die Methode dieser Art von Untersuchung ist ziemlich angsterregend, besonders für ein Kind. Es ist eine traumatische Erfahrung. Es dauert über eine Stunde. Dann müssen die Ergebnisse zur analytischen Auswertung an das Zentrale Psychoanalytische Institut gesandt werden, und das kann Wochen dauern. Und dazu kommt noch, Mrs. Hanshaw, daß es sehr viele Psychiater gibt, die von der Zuverlässigkeit dieser Art von Untersuchung keineswegs überzeugt sind.«
Mrs. Hanshaw preßte die Lippen zusammen.
»Dann kann man also gar nichts unternehmen?«
Dr. Sloane lächelte.
»Das habe ich nicht gesagt. Es hat schon jahrhundertelang Psychiater gegeben, bevor man die Routineuntersuchung eingeführt hat. Am besten, ich unterhalte mich einmal mit dem Jungen.«
»Sie wollen mit ihm reden? Das ist alles?«
»Wenn nötig, werde ich mich auch noch mit einigen Fragen an Sie wenden, aber das Wesentliche ist, daß ich zuerst einmal mit dem Jungen spreche.«
»Also wirklich, Dr. Sloane, ich bezweifle, ob er mit Ihnen über diese Angelegenheit sprechen wird. Nicht einmal mit mir hat er darüber gesprochen, und ich bin doch immerhin seine Mutter.«
»So etwas kommt oft vor«, versicherte der Psychiater. »Ein Kind eröffnet sich oft viel eher einem Fremden als einer nahestehenden Person. Jedenfalls, auf andere Art kann ich den Fall nicht behandeln.«
Etwas unbefriedigt erhob sich Mrs. Hanshaw.
»Wann können Sie kommen, Doktor?«
»Sagen wir, am kommenden Samstag. Da hat Ihr Sohn ja schulfrei. Oder haben Sie an diesem Tag schon etwas anderes vor?«
»Wir werden Sie erwarten.«
Würdig schritt sie aus dem Sprechzimmer. Dr. Sloane begleitete sie durch den kleinen Empfangsraum zum Tor und wartete, bis sie die Nummer ihres Tores gewählt hatte. Er beobachtete, wie sie durch das Tor schritt. Er sah eine halbe Frau, eine Viertelfrau, einen einzelnen Ellbogen, einen Fuß, ein Nichts.
Es war tatsächlich furchterregend.
War ein Tor schon jemals während eines Transports zusammen gebrochen – hier die eine Hälfte des Körpers, dort die andere? Er hatte noch nie von einem solchen Fall gehört, aber er konnte sich vorstellen, daß es möglich war.
Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und sah nach, welcher Patient als nächster in die Sprechstunde kommen sollte. Mrs. Hanshaw war offensichtlich verärgert und enttäuscht gewesen, weil er es abgelehnt hatte, für ihren Sohn eine psychiatrische Routineuntersuchung zu arrangieren.
Aber warum, um Gottes willen? Warum sollte eine solche Untersuchung, die seiner Meinung nach nichts als Quacksalberei war, eine so große Bedeutung in der Öffentlichkeit gewonnen haben? Es mußte an diesem allgemeinen Trend zur Maschine hin liegen. Was der Mensch auch kann, Maschinen können es besser. Maschinen! Noch mehr Maschinen! Maschinen für alles und jedes! O tempora! O mores!
Zum Teufel!
Es begann ihn zu stören, daß er der
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