Vergeben, nicht vergessen
Sie stieß ein tiefes Wimmern aus und rannte zur Wand neben dem Kamin. Dann rollte sie sich zusammen, ganz genau so, wie sie es eben gerade in der Küche getan hatte.
Er hatte ihr Angst eingejagt. Langsam stand er auf, ging zum Sofa und setzte sich. »Tut mir Leid, dass ich dich erschreckt habe. Ich hätte dir vorher sagen sollen, was ich vorhatte. Kann ich dir die Ärmel hochkrempeln? In der Küche habe ich in der Schublade ein paar Sicherheitsnadeln. Ich kann sie dir hochstecken, dann brauchst du dich nicht mehr um sie zu kümmern.«
Sie stand auf und kam auf ihn zu. Ein Schritt, dann hielt sie inne. Noch ein Schritt. Wieder eine Pause, während der sie ihn musterte und abzuwägen schien, ob sie ihm vertrauen konnte oder ob er sich auf sie stürzen würde. Schließlich stand sie neben ihm. Sie sah zu seinem Gesicht auf. Er lächelte, hob langsam die Hand und krempelte die Ärmel nach oben. Dann sagte er: »Ich könnte dir die Haare flechten. Es wird zwar nicht besonders gut werden, aber immerhin hast du die Haare dann nicht mehr im Gesicht.«
Der Zopf war gar nicht mal so schlecht. Er band ihn mit einem Schnippgummi ab, das vorher die Pfirsichtüte verschlossen hatte.
»Die Sonne scheint ziemlich stark. Draußen ist es nicht zu kalt. Wenn ich dich einpacke, willst du dann nach draußen gehen?«
Er hätte es wissen sollen. Wie der Blitz war sie in die Küche verschwunden. Er wusste, dass sie sich gegen die verdammte Wand presste. Immerhin schloss sie sich nicht im Badezimmer ein.
Was sollte er tun?
Was auch immer er mit ihr anstellte, er musste es behutsam tun, ganz behutsam.
Gott sei Dank befanden sich in der Hütte ein paar Zeitschriften. Er sagte: »Möchtest du dir ein paar Fotos ansehen? Wenn du willst, könnten wir sie uns gemeinsam anschauen, und ich könnte dir vorlesen, was unter den Fotos steht.«
Schließlich nickte sie. »Aber lass mich erst einmal die Sicherheitsnadeln holen, um dir die Ärmel hochzukrempeln.«
Danach folgte sie ihm ins Wohnzimmer. Es war nicht einfach, denn sie wollte nicht zu dicht an ihn herantreten. Die Zeitschrift lag schließlich zwischen ihnen auf dem Sofa. Immerhin hatte er sie überreden können, sich die Decke umzuwickeln.
Er betrachtete sie und sagte: »Socken.«
Sie blinzelte und legte den Kopf zur Seite.
»Ich mache mir Sorgen, dass du barfuß herumläufst. Möchtest du ein Paar von meinen Socken anprobieren? Sie werden lustig aussehen und dir bis zum Hals gehen. Vielleicht solltest du dich darin üben, ein Clown zu sein. Du könntest dir meine Socken anziehen und sehen, ob ich lache. Was meinst du?«
Die Socken waren ein voller Erfolg. Sie versuchte nicht, ko-misch zu wirken, aber sie lächelte einmal kurz auf, als sie sie sich über die Knie zog.
Sie brauchten fast eine Stunde, um die Zeitschrift People von vergangenem Oktober durchzublättern. Er würde wohl nie wieder ein Bild von Cindy Crawford sehen wollen, die auf jeder zweiten Seite abgebildet war. Nachdem er von einem Kinostar vorgelesen hatte, der seinen lange verlorenen Bruder wieder gefunden hatte, blickte er auf. Sie war eingeschlafen, ihr Gesicht auf die Hände gestützt und sich an das Sofa anlehnend. Er steckte die Decke um sie fest und kehrte wieder zu seiner Schreibmaschine zurück.
Fast hätte er seine Brille heruntergeschlagen, so heftig schnellte er hoch. Dieses grauenhafte Wimmern war diesmal noch lauter. Sie hatte einen Alptraum, wand sich unter der Decke, ihr schmales Gesicht war gerötet und vor Angst verzerrt. Er musste sie anfassen, er hatte gar keine andere Wahl.
Er schüttelte sie an der Schulter. »Wach auf, Kleines. Komm schon, wach auf.«
Sie öffnete die Augen. Sie weinte.
»O nein.« Er dachte nicht darüber nach, er setzte sich einfach und zog sie zu sich auf den Schoß. »Es tut mir so Leid, Kleines. Alles ist wieder gut.« Er hielt sie fest und drückte ihren Kopf sanft gegen seine Brust, dann zog er die Decke um sie herum, damit sie es warm hatte. Einer der Socken baumelte an ihrem linken Fuß. Er zog ihn wieder hoch und drückte sie noch fester an sich.
»Es ist jetzt alles gut. Niemand wird dir wehtun. Das verspreche ich dir. Niemand wird dir jemals wieder wehtun.«
Ihm war bewusst, dass sie erstarrte. Er hatte sie erschreckt. Aber er ließ nicht locker. Wenn sie jemals wirklich jemanden gebraucht hatte, dann jetzt. Und er war der Einzige, der verfügbar war. Er flüsterte weiter auf sie ein, sagte ihr wieder und wieder, dass sie nun in Sicherheit war und dass er
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