Vergeben, nicht vergessen
»Ramsey, mir wird schon nichts passieren. Ich werde nicht wegrennen.«
Sie lief neben ihm, hielt seine Hand und versuchte ihn weder anzutreiben noch zu verlangsamen. Sie beobachtete einen bestimmten Seelöwen, der all diejenigen lauthals anbrüllte, die einen etwas nachgiebigen Eindruck erweckten. Er war riesig, und Ramsey war auch klar, wie es dazu gekommen war. Er fragte einen der Fischer, wann der Seelöwe hier aufgetaucht war. »Vor zwei Jahren«, erwiderte der Mann. »Der verdammte Schnorrer hört einfach nicht zu essen auf. Er heißt Old Chester, der Bonvivant. Aber was erwartet man anderes, wenn San Francisco gleich um die Ecke ist? Man soll ihn nicht füttern, doch daran hält sich kein Mensch. Dort drüben kann man billig Sardinen kaufen. Und diese Schnorrer kennen einfach keine Scham.«
Sprach er von den Touristen oder von den Seelöwen?
»Also gut«, sagte Ramsey schließlich. »Aber dann wirst du ihm die Sardinen hinwerfen müssen, Emma. Mehr lasse ich nicht zu. Und geh nicht zu nahe heran.«
Sie warf ihm einen ihrer nachsichtigen Blicke zu und kaufte drei Sardinen, die ihr Gott sei Dank bereits in totem Zustand in ein Stück Zeitungspapier gewickelt überreicht wurden. Ramsey stand unmittelbar hinter ihr, als sie darauf wartete, bis sie mit der Fütterung des Kolosses an der Reihe war. Sie kreischte vor Lachen, als er sehr laut posaunte.
In genau dieser Sekunde rief Molly seinen Namen.
32
Ramsey wäre fast gestolpert, so schnell drehte er sich um. Ein Junge versuchte Molly das Portemonnaie aus den Händen zu reißen. Er rannte direkt auf die beiden zu und brüllte: »Lass sie los, du elender Knirps!«
Emma.
Ramsey schnellte herum und sah Emma, ihre Hand ganz nah an dem Seelöwen. Sie hatte nicht gemerkt, was passiert war. Um sie herum stand eine Menschentraube. Sie war in Sicherheit. Doch genau in dem Augenblick, als er sich zu Molly umdrehen wollte, sah Ramsey ihn sich durch das Knäuel der Kinder und Eltern um den Seelöwen herum durchschlängeln. Den Mann hätte er überall erkannt, sowohl in seinen Alpträumen als auch in der Wirklichkeit. Nur noch wenige Meter, und er hätte sie fassen können. Jetzt war der Mann schon fast bei ihr, nur noch etwa einen Meter entfernt. Er bewegte sich schnell, denn er wusste, dass das von ihm in Gang gesetzte Ablenkungsmanöver nicht mehr lange anhalten konnte. Er hatte gerade die Hand ausgestreckt, als Ramsey seinen Kragen zu fassen bekam, ihn herumwirbelte und ihm die Faust gegen das Kinn rammte.
»Hey, Mann! Warum schlagen Sie den denn? Er hat Ihnen doch gar nichts getan!«
»Genau, Sie können hier nicht einfach Leute verprügeln. Was ist denn nur in Sie gefahren?«
Ein halbes Dutzend Leute drängte sich um ihn, aber noch hatte ihn niemand berührt. »Emma!«, brüllte er. »Geh zu deiner Mutter!«
Dickerson strauchelte wieder auf die Füße, rieb sich das Kinn, spuckte Blut und brüllte: »Weshalb haben Sie mich geschlagen? Ich bin Priester! Weshalb schlagen Sie einen heiligen Mann?«
»Hey, Mann, das hätten Sie nicht tun sollen!«
Ramsey wurde zurückgedrängt. Ein Mann boxte ihm gegen die Schulter.
»Nein, hört auf! Er ist mein Papa, und er hat mich gerettet!«
Aber niemand hörte das kleine Mädchen, alle redeten weiter auf ihn ein, er habe sich wie ein Idiot benommen.
Ramsey war verzweifelt. Das hatte er nicht beabsichtigt, aber er sah, wie Dickerson sich wieder an Emma heranpirschte. »Lass sie in Ruhe!«, schrie er, aber Dickerson beachtete ihn gar nicht. Er war so auf Emma konzentriert, dass Ramsey zweifelte, ob er ihn überhaupt gehört hatte.
»Tut mir Leid.« Ramsey richtete sich auf, boxte einem Mann in den Oberschenkel, den nächsten gegen die Schulter und den übernächsten schließlich in die Magengrube. Er war frei. Dickerson war wieder ganz nah an Emma. Diesmal brüllte Ramsey nicht. Er wollte seine Hände an Dickerson bekommen und ihn zu Tode prügeln. Er spürte, wie die Wut in ihm aufstieg, eine gewaltige, unverhüllte Rache. Dickerson war nur noch Zentimeter von ihr entfernt. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, fast gelöst, als ob er eine wunderschöne Aussicht genießen würde. In seiner pervertierten Vorstel-lung war möglicherweise genau das der Fall. Ein Mann drehte sich abrupt um und stieß mit Ramsey zusammen. Ramsey konnte nicht anders, er musste den Mann recht grob aus dem Weg schubsen. Jetzt sah Dickerson auf. Ramsey hörte ihn fluchen und sah, wie er seine Chancen abschätzte, geschnappt zu werden. Er musste wohl
Weitere Kostenlose Bücher