Vergeben, nicht vergessen
betrachtete seinen geschwollenen Schenkel. Sein Bein fühlte sich heiß an, was ihm unter den Umständen jedoch als vollkommen normal erschien.
Das Abnehmen des Pflasters und der mittlerweile mit der Wunde verklebten Mullbinde tat höllisch weh. Er nahm einen kräftigen Schuss Wodka, biss die Zähne aufeinander und brachte es hinter sich. Er starrte auf sein Bein. Es war geschwollen und heiß, jedoch weder gerötet, noch war Eiter sichtbar, Gott sei Dank. Er goss noch mehr Wodka über die Wunde und zischte durch die Zähne hindurch.
Er spürte ihre Gegenwart, dann ihre kleine Hand auf seiner Schulter. Hoffentlich machte er einen besseren Eindruck als seine Wunde. Er wandte sich langsam um und sagte: »Hallo, Kleines. Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe. Ich musste mal nach meinem Bein sehen. Es ist nicht weiter schlimm, nur ein wenig geschwollen und heiß, aber nichts Beängstigendes. Ich bin eben nur besonders vorsichtig. Lass es mich jetzt wieder verbinden.«
Vorsichtig nahm sie ein Mullkissen und wartete. Mit beiden Händen schob er das Fleisch fest über der Wunde zusammen, dann nickte er ihr zu. Sie legte das Mullkissen darauf. Dann zog sie etwas Klebeband ab, legte es über den Verband, zog es fest und strich es mit ihrer Hand glatt. Besser hätte er es auch nicht machen können.
»Vielleicht wirst du ja einmal Ärztin«, meinte er und hätte vor Schmerz aufjaulen wollen. Er spürte klebrigen Schweiß auf seiner Stirn und glaubte so grau wie eines seiner alten Nachthemden zu sein. Er atmete ein paar Mal tief durch. »Danke, Kleines. Mir geht es gut, wirklich. Lass mich noch etwas von den Klebestreifen drübermachen, damit es auch gut hält.« Er befestigte noch weitere vier Pflaster.
Sie trat zurück, behielt ihre Hand jedoch auf seiner Schulter. Ab und an streichelte sie ihn. Er wusste es zu schätzen.
Nachdem sie fertig waren, zog er seine Trainingshose wieder hoch. »Ich wette, dass morgen mein Bein von oben bis unten blau ist. Hoffentlich wird die Schwellung etwas nach-lassen. So, und jetzt lass mich noch etwas Aspirin nehmen.« Dieses Mal schluckte er drei Tabletten.
»Willst du wieder ins Bett gehen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht. Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?«
Sie schüttelte den Kopf, dann bewegte sie die Lippen, als ob sie sprechen wollte.
»Ich soll dir eine Geschichte erzählen?«
Sie nickte und nahm zu seiner großen Freude seine Hand. Er streckte sich auf dem Sofa aus, sie legte sich neben ihn auf die Decke. Dann zogen sie noch zwei Laken und eine Decke über sich. Die Pistole lag unmittelbar in seiner Nähe auf der anderen Seite auf dem Fußboden. Er drückte das Kind an sich, fühlte ihre Wärme an seiner Seite, ihre Wange an seinem Hals. »Es war einmal eine kleine Prinzessin, Sonya hieß sie, die so gut wie niemand sonst im Königreich ihres Vaters Drachen fliegen lassen konnte. Eines Tages beschloss der König, einen Wettkampf zu organisieren. Er wusste, dass niemand sie besiegen konnte. Sie besaß nämlich einen ganz besonderen Drachen, der höher fliegen und mehr Figuren als ein Schlittschuhläufer vollführen konnte. Es gab nur einen Wettkampfteilnehmer, der dem König ein wenig Sorgen bereitete. Das war Prinz Luther, der ein Grobian und ein ziemliches Großmaul war. Weißt du, was bei dem Wettkampf passiert ist?«
Sie schnarchte leise. Er beugte sich hinunter und küsste sie auf den Kopf. Erst jetzt merkte er, dass er sein verdammtes Bein vollkommen vergessen hatte. Auch wurde ihm klar, dass seine Geschichte bis jetzt ziemlich lausig gewesen war, vermutlich weil er so müde und benebelt war. Er hatte Glück, dass sie wieder eingeschlafen war, sonst hätte er sie sicherlich zum Gähnen gelangweilt.
Während des folgenden Tages bemühte er sich, sein Bein nicht zu belasten. Er blieb in der Hütte, saß neben dem Fenster und beobachtete unentwegt die Wiese und den angrenzenden Waldrand. Er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken und sah niemanden.
Er würde die Dinge heute langsam angehen müssen, sich stärken und dann entscheiden, was zu tun war.
Ihm war klar, dass sie verängstigt war. Das wusste er, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Er erzählte ihr ein halbes Dutzend Geschichten, alle gar nicht so übel, Luther, der Wettkampf im Drachenfliegen, über die kleine Prinzessin Sonya, die den miesen kleinen Jungen Luther im Drachenfliegen besiegte und ganz prima Pilze kochen konnte und ... Er würde sich die nächste Geschichte noch nicht
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