Vergebung
Nachdem er ungefähr eine halbe Seite gefüllt hatte, hielt er inne und riss das Blatt aus dem Block.
Gefälschte Dokumente waren nicht sein Fachgebiet, aber in diesem Fall wurde ihm die Aufgabe dadurch erleichtert, dass die Briefe, die er schrieb, von ihm selbst unterschrieben sein sollten. Das Problem war nur, dass kein einziges Wort von dem, was er schrieb, wahr sein würde.
Als er durch Nyköping fuhr, hatte er schon diverse weitere Entwürfe weggeworfen, doch so langsam bekam er eine Vorstellung davon, wie die Briefe formuliert werden mussten. Als er in Göteborg ankam, hatte er zwölf Briefe beisammen, mit denen er zufrieden war. Zudem achtete er sorgfältig darauf, deutliche Fingerabdrücke auf dem Briefpapier zu hinterlassen.
Am Hauptbahnhof von Göteborg machte er einen Kopierer ausfindig und fertigte Kopien von allen Briefen an. Dann kaufte er Kuverts und Briefmarken und steckte die Briefe in den Postkasten, der um 21 Uhr wieder geleert werden sollte.
Schließlich nahm er ein Taxi zum City Hotel in der Lorensberggatan, in dem Clinton ihm schon ein Zimmer gebucht hatte. Er wohnte also im selben Hotel, in dem Mikael Blomkvist vor ein paar Tagen übernachtet hatte. Gullberg ging sofort in sein Zimmer und ließ sich aufs Bett sinken. Er war unendlich müde, und ihm fiel ein, dass er den ganzen Tag nur zwei Scheiben Brot gegessen hatte. Hunger hatte er aber immer noch nicht. Er zog sich aus, streckte sich im Bett aus und schlief fast sofort ein.
Lisbeth Salander fuhr aus dem Schlaf, als sie hörte, wie ihre Tür geöffnet wurde. Sie wusste sofort, dass es keine von den Nachtschwestern war. Als sie die Augen zu zwei schmalen Schlitzen öffnete, erkannte sie in der Türöffnung eine Silhouette mit Krücken. Zalatschenko stand ganz still und betrachtete sie in dem Licht, das vom Korridor hereinfiel.
Ohne sich zu bewegen, spähte sie auf die Anzeige der Digitaluhr. 03:10.
Sie ließ den Blick ein paar Millimeter weiterschweifen und sah das Wasserglas am Rand ihres Nachttischchens. Sie fixierte das Glas und berechnete den Abstand. Sie konnte das Glas gerade eben erreichen, ohne den ganzen Körper bewegen zu müssen.
Es würde nur einen Sekundenbruchteil dauern, den Arm auszustrecken und das Glas mit einer entschlossenen Bewegung gegen die harte Kante des Nachttischs zu schlagen. Und eine halbe Sekunde, um die scharfe Bruchstelle in Zalatschenkos Kehle zu bohren, wenn er sich über sie beugte. Alternativen gab es nicht. Das Glas war ihre einzige mögliche Waffe.
Sie entspannte sich und wartete.
Zalatschenko blieb zwei Minuten in der Tür stehen, ohne sich zu bewegen.
Dann zog er die Tür vorsichtig wieder zu. Sie hörte das schwache Schleifgeräusch der Krücken, als er sich leise von ihrem Zimmer entfernte.
Nach fünf Minuten richtete sie sich auf, stützte sich auf den Ellbogen, griff nach dem Glas und nahm einen tiefen Schluck. Sie schwang die Beine über die Bettkante und entfernte die Elektroden von Armen und Brustkorb. Als sie sich auf die Füße stellte, schwankte sie unsicher hin und her. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie ihren Körper unter Kontrolle hatte. Sie hinkte zur Tür, wo sie sich schweißnass an die Wand lehnte und erst einmal nach Luft schnappte. Dann wurde sie von eiskalter Wut gepackt.
Fuck you, Zalatschenko. Lass es uns endlich zu Ende bringen.
Sie brauchte eine Waffe.
Im nächsten Moment hörte sie draußen das Klappern von Absätzen, die sich rasch näherten.
Verdammt. Die Elektroden.
»Warum um alles in der Welt sind Sie denn auf?«, rief die Nachtschwester.
»Ich musste … auf … die Toilette«, stieß Lisbeth atemlos hervor.
»Legen Sie sich sofort wieder hin!«
Sie fasste Lisbeths Hand und stützte sie auf dem Weg zurück zum Bett. Dann holte sie eine Bettpfanne.
»Wenn Sie auf die Toilette müssen, können Sie nach uns klingeln. Dafür ist dieser Knopf da«, erklärte die Schwester.
Lisbeth schwieg. Sie musste sich voll darauf konzentrieren, ein paar Tropfen aus sich herauszupressen.
Mikael Blomkvist wachte am Dienstag um halb elf auf, duschte, macht sich einen Kaffee und öffnete dann sein iBook. Nach dem Treffen bei Milton Security tags zuvor war er nach Hause gegangen und hatte bis fünf Uhr morgens gearbeitet. Endlich merkte er, dass die Geschichte anfing, Gestalt anzunehmen. Zalatschenkos Biografie hing immer noch in der Luft - er musste sich ja auf die Informationen stützen, die er Björck abgepresst hatte, sowie auf die Details, die Holger
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