Vergeltung
tagelangen Schweigen, und er räusperte sich
vorsichtig, sodass es an den Stimmbändern zog, und befeuchtete den Mund mit
Spucke.
»Entschuldigung.«
Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen.
Der Alte antwortete nicht und Alex kamen Zweifel, ob er ihn
überhaupt gehört hatte.
»Entschuldigung«, wiederholte er mit deutlicherer Stimme, die
einerseits kraftvoll und doch vor Reue brüchig klang. Herr Larsson antwortete
nicht, aber sein Bett knarrte laut, und ein dumpfes Geräusch war zu hören, als
der alte Mann die Füße auf den Boden setzte. Alex fragte sich kurz, ob er ihn
umbringen wollte. Vielleicht hatte er ein Messer im Ärmel versteckt und wollte
seine Frau rächen. Alex biss die Zähne zusammen, kniff die Augen fest zu und
wartete auf das Messer, doch dann spürte er zu seiner Verwunderung die alte,
runzlige Hand des Alten in seiner. Alles in ihm barst – ein großer Eisberg riss
sich mit einem knirschenden Geräusch los und mit geschlossenen Augen gab er den
Tränen nach. Sie hielten sich lange an der Hand, bis das Weinen langsam
versiegte. Dann öffnete Alex zum ersten Mal die Augen und sah Herrn Larsson an.
Seine Augen waren genauso, wie er sie in Erinnerung hatte, sanft und gütig.
Herr Larsson hielt seinen Blick fest, und Alex fühlte sich von seinen Sünden
erlöst.
—
Es war Robins Geburtstag,
und Rebekka hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Die Erinnerungen an den Bruder
schwirrten durch ihren Kopf und trotz mehrerer Tassen Kaffee fühlte sie sich
erschöpft bis auf die Knochen. Sie schickte Michael mehrmals eine SMS, um die
Tagesaufgaben mit ihm abzusprechen, doch er antwortete nicht und rief nicht
zurück, obwohl sie auch auf seinem Anrufbeantworter mehrere Nachrichten
hinterlassen hatte.
Das Polizeipräsidium war leer bis auf den diensthabenden Beamten,
Kjøller, den Rebekka nur flüchtig kannte. Sie nickten sich freundlich zu, und
sie ging die Treppe hoch zu ihrem Büro. Die Luft war abgestanden, überall lagen
Akten und leere Tüten von irgendwelchen Süßigkeiten herum. Sie öffnete das
Fenster, blieb einen Augenblick stehen und atmete den kühlen Geruch nach Meer
ein. Sie schielte auf die Uhr an der Wand, 10.07 Uhr, und rechnete sich aus,
dass ihr noch drei Stunden zum Arbeiten blieben, bevor sie zu dem Essen bei
ihren Eltern musste. Allein bei dem Gedanken an das Familientreffen krampfte
sich ihr Magen zusammen. Die Schwester ihrer Mutter und ihr Onkel, mit ihrer
ganzen Wut auf die Gesellschaft, würden da sein und die Mutter würde zugeknöpft
und nervös sein, der Vater fröhlich, während er dauernd husten musste.
Glücklicherweise kam auch ihre Tante väterlicherseits.
Sie beschloss, alle Verhöre noch einmal durchzulesen, in der
Hoffnung, dass sie ein wichtiges Detail übersehen hatte. Zwei Stunden später
war sie keinen Schritt weitergekommen. Ihre Gedanken kreisten um die Tatsache,
dass Jens Anker während seiner Ausbildung zum Körpertherapeuten in Stockholm
gewohnt hatte. Alle Wege führen nach Stockholm. Er
hatte im Dezember 1984 den Lehrerberuf an den Nagel gehängt und war nach Stockholm
gegangen, was bedeutete, dass er zu der Zeit, als Anna Gudbergsen geboren
wurde, dort gelebt haben musste. Sie spielte einen Moment mit dem Gedanken, ob
Jens Anker Annas Vater war. Konnte das das Motiv sein? Sie schloss die Augen
und konzentrierte sich auf die vier Hauptverdächtigen: John Mathiesen, Jens Anker,
Kristian Mathiesen und Gert Gudbergsen. Wenn es derselbe Mörder war, konnten
sie Kristian Mathiesen mit Sicherheit ausschließen und Gert Gudbergsen vermutlich
auch. Die Gesichter tanzten vor ihren Augen, und sie wusste, dass nicht viel
fehlte, dass alle Puzzleteile an ihren Platz fielen – oder auseinander.
Plötzlich musste sie an einen Ermittler denken, dem sie in den USA begegnet
war, Ryan Sullivan, er hatte einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen.
Ryan Sullivan war Sheriff in einer kleinen, langweiligen Stadt
gewesen, in Bainbridge im Staat New York, als er eines Tages an einen Tatort
gerufen wurde. Ein fünfjähriges Mädchen, Doreen Richards, war in einem Kornfeld
etwas außerhalb der Stadt ermordet aufgefunden worden, erwürgt und geschändet.
Ryan Sullivan hatte seine ganze Seele in die Ermittlung gesteckt. Er hatte
Tausende von Menschen in der Gegend befragt, die sterblichen Reste des Mädchens
an die führenden Rechtsmediziner in den USA geschickt, alles ohne Resultat. Der
Mörder hatte keine Spuren hinterlassen. Die Jahre vergingen und
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