Vergeltung
schwache Lispeln, obwohl das, was sie
sagte, ihm Angst machte. Er bewegte sich unruhig hin und her, konnte sich nicht
vorstellen, das Zimmer mit jemandem zu teilen.
»Sie müssen keine Angst haben.« Er spürte ihre sanfte Hand auf
seiner Schulter. »Warten Sie ab, Sie werden sich freuen.« Sie sprach mit
Nachdruck, und er runzelte verwirrt die Stirn. Er war lieber allein in seiner
inneren Dunkelheit, außer wenn die Krankenschwestern kamen, um ihn zu
versorgen. Er genoss es vor allem, wenn sich Karin, seine
Lieblingskrankenschwester, um ihn kümmerte, obwohl er bisher keine ihrer Fragen
beantwortet hatte. Seit der Respirator abgeschaltet worden war, hatte er weder
gesprochen noch die Augen geöffnet. Er hatte es trotz seiner wachsenden
Neugier, wie sie wohl aussehen mochte, noch nicht fertiggebracht. Er hoffte auf
Grübchen, strohblondes langes Haar und funkelnde blaue Augen und befürchtete
fünfzig Kilo Übergewicht, fettige Haare und einen schwarzen Damenbart. Deshalb
beschloss er, noch etwas damit zu warten, und freute sich darüber, wie die
anderen Sinne geschärft wurden, wenn einer außer Kraft gesetzt war. Er konnte
die Krankenschwestern mit Leichtigkeit an ihren Bewegungen erkennen, und in dem
Moment, in dem die Zimmertür aufging, begann das Ratespiel.
Ann-Britt kam mit schweren, resignierten Schritten ins Zimmer
geschlurft. Sie seufzte unablässig und wusch ihn mit fahrigen, unkoordinierten
Bewegungen, und er sah sie vor sich, groß und aufgedunsen, mit fettiger Haut
und leerem Blick, mehr tot als lebendig.
Gunilla dagegen war schnell und effektiv, ihre Holzschuhe klapperten
über den Boden wie ein Pferd im Galopp, und ihre Bewegungen waren flatterig,
wenn sie seinen Tropf wechselte oder ihn wusch, ihre Hände kalt und trocken. Er
mochte sie nicht, stellte sich vor, dass die Hände ein Spiegelbild ihrer
Persönlichkeit waren und, falls sie einen Mann hatte, wie sie neben ihm saß,
fern und unnahbar, vertrocknet wie ein alter Kaktus auf der Fensterbank. Und
dann war da Karin. Anfangs hatte sie ihm Fragen gestellt, doch allmählich hatte
sie als Einzige sein Schweigen akzeptiert und unterhielt ihn mit kleinen
Anekdoten aus ihrem Leben. Sie erzählte von der Krankenpflegearbeit, der
Familie, die in ihrer Heimatstadt Skjern wohnte, von ihrem Traum von Mann und
Kindern und der Sehnsucht, einmal in die USA zu reisen. Er lag stumm da und
hörte ihr zu, lächelte vor sich hin, wenn sie etwas Lustiges sagte, und fühlte
einen Stich im Herzen, wenn es etwas Bewegendes war. Sie war Mitte zwanzig und
unverheiratet, und er stellte fest, dass ihn das freute.
Die Gardinen wurden zur Seite gezogen und er spürte, wie das Licht
ins Zimmer drang.
Es klopfte an der Tür und eine Männerstimme sagte: »Hier ist Herr
Larsson.«
Herr Larsson. Alex schnappte nach Luft,
sein Herz schlug heftig unter dem weißen Krankenhaushemd. Das konnte nicht
sein. Das musste ein anderer Herr Larsson sein. Sie würden doch niemals den Herrn Larsson in ein Zimmer mit ihm legen. Die Angst
stach wie tausend Nadeln in die Haut, er fror und schwitzte abwechselnd. Er
merkte, dass Karin und der Krankenträger wortlos ein paar Gesten austauschten,
um darauf das Zimmer zu verlassen, und am liebsten hätte er gebrüllt: » Lasst mich nicht allein, bringt mich hier raus. « Dann brach
Herr Larsson das Schweigen.
»Guten Morgen, Alex.«
Alex erstarrte bei dem Klang der wohlbekannten Stimme und kniff die
Augen noch fester zusammen.
»Es geht mir jetzt besser, und als ich gehört habe, dass du auch
hier im Krankenhaus liegst, habe ich darum gebeten, in dein Zimmer verlegt zu
werden. Du hast ja bald zwei Jahre bei mir gewohnt, und ich bin mir sicher,
dass du mir etwas zu sagen hast.« Einen Augenblick herrschte Stille, dann fuhr
der alte Mann fort: »Ich bin noch immer erschüttert darüber, dass du mich angegriffen
hast, Alex, und sehr unglücklich, dass ich meine liebe Iris verloren habe. Sie
hat einen Schock bekommen, als sie mich dort liegen sah, und das hat ihr schwaches
Herz nicht verkraftet. Wir waren fast sechzig Jahre verheiratet.« Er seufzte
laut. »Ich habe mich entschlossen, dir zu vergeben, deshalb habe ich auch die
Anzeige wegen Körperverletzung zurückgezogen. Ich habe Dickdarmkrebs,
unheilbar, und nicht mehr lange zu leben. Es ist wichtig, verzeihen zu können,
sonst kann man nicht in Frieden gehen. Verstehst du, was ich meine, Alex?«
»Ja.« Alex’ Stimme war unsicher und schwach, deutlich in
Mitleidenschaft gezogen von dem
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