Vergeltung
verlören.
Er war wieder hoch in den OP-Bereich gegangen und eine
Krankenschwester war ihm entgegengekommen. Die Operation war ausgezeichnet
verlaufen und der entzündete Blinddarm entfernt worden.
»Wie geht es dir, mein Schatz?« Er streichelte die kleine, blasse
Hand.
»Der Bauch tut noch immer weh, aber anders«, antwortete Amalie mit
schwacher Stimme und drückte seine Hand.
»Das kommt daher, dass du genäht worden bist. Das geht bald vorbei.
Soll ich dir etwas holen? Eis, Süßigkeiten, Schokolade … ich hole dir, was du
willst.«
»Mama soll kommen«, sagte Amalie, und Tränen sammelten sich in ihren
blauen Augen.
»Sie muss gleich hier sein«, antwortete er und im selben Moment ging
die Tür auf, und Anette stürmte ins Zimmer.
»Mein lieber, kleiner Schatz«, sagte sie weinend, beugte sich über
Amalie und küsste sie vorsichtig auf die Haare.
Michael fiel auf, dass sie schwach nach Alkohol und einem fremden
Aftershave roch, doch er schluckte den Ärger hinunter. Sie sah ihn mit roten
Augen an.
»Ich habe deine Nachrichten erst jetzt bekommen. Es tut mir so
furchtbar leid.«
Er nickte und versuchte, verständnisvoll auszusehen.
»Sie ist gerade erst aufgewacht«, sagte er beschwichtigend, und
Anette lächelte ihn dankbar an.
—
Rebekka bekam bereits auf dem
Weg zu ihren Eltern Magenschmerzen – hauptsächlich aus Nervosität, dass sie
gerade diesen Tag mit der Familie verbringen musste, aber auch vor Stress, weil
sie ihre Ermittlungsarbeit in einer so entscheidenden Phase für ein paar
Stunden nicht fortsetzen konnte. Sie rief Dorte an und bat die Freundin, sie in
einer Stunde auf dem Handy anzurufen. Sobald sie aufgelegt hatte, schämte sie
sich. Es war lächerlich, dass sie gezwungen war, solche Tricks anzuwenden, doch
wenn die Arbeit rief, würde ihre Mutter notgedrungen akzeptieren, dass sie
schon wieder gehen musste.
Der Kies knirschte unter ihren
Füßen, als sie sich auf wackligen Beinen der Haustür näherte. Ihr Vater öffnete
ihr. Er strahlte über das ganze Gesicht und bat sie herein. Ihre Tante
mütterlicherseits und der Onkel saßen bereits auf dem abgenutzten Ledersofa im
Wohnzimmer und warteten. Sie erhoben sich linkisch, als sie eintrat.
»Hallo, Rebekka.« Die Tante streckte ihr eine schlaffe Hand hin.
Rebekka ergriff sie und lächelte sie übertrieben strahlend an.
»Wir haben uns wirklich lange nicht gesehen«, murmelte der Onkel. In
seiner riesigen Hose, die er über den kugelrunden Bauch gezogen hatte und die
nur durch die soliden Hosenträger nicht rutschte, war er ganz der Alte.
»Ja, das stimmt«, antwortete Rebekka und drehte sich zu ihrem Vater
um, der Martini in hohe Gläser einschenkte.
»Ist deine Schwester schon da?«, fragte sie und sah sich verzweifelt
im Wohnzimmer um.
Der Vater schüttelte den Kopf und ließ eine Olive in jedes Glas
fallen.
»Sie kommt etwas später. Wir sollen schon einmal anfangen, hat sie
gesagt.« Er drehte sich zur Küchentür um und rief: »Else, kommst du?«
Die Mutter hatte eine karierte Schürze an und stand mit einem
gezwungenen Lächeln in der Tür. Sie nickte ihnen zu und nahm das Glas, das der
Vater ihr reichte. Sie prosteten sich schweigend zu.
»Dann herzlich willkommen.« Der Vater lächelte verlegen, und alle
bedankten sich. Die Mutter verschwand wieder in der Küche, gefolgt von der
Tante, die »nur etwas helfen« wollte. Der Vater, der Onkel und Rebekka standen
sich gegenüber und sahen sich verlegen um.
»Es ist wunderbar, dass Bekka wieder da ist«, versuchte es der
Vater, und der Onkel nickte gutmütig und betrachtete sie interessiert.
»Das kann ich mir denken. Es ist ziemlich lange her, dass wir dich
das letzte Mal gesehen haben«, brummte er.
Der Vater bekam einen Hustenanfall, sein Gesicht verfärbte sich
dunkelrot. Rebekka ignorierte die Bemerkung ihres Onkels, ging zu ihrem Vater
und half ihm, sich hinzusetzen. Die Lungen pfiffen laut, wenn er Luft holte.
»Soll ich dir etwas Wasser holen?«, fragte sie und nestelte an dem
dunkelbraunen Leder des Ohrensessels. Er war durch die jahrelange Abnutzung
rissig geworden und an mehreren Stellen schaute die gelbliche Polsterung
heraus. Ihr Vater schüttelte den Kopf, und sie zog sich ins Badezimmer zurück,
um für das bevorstehende Mittagessen Kraft zu sammeln. Setzte sich auf die Toilette
und legte den Kopf auf das kühle Handwaschbecken. Sie schloss die Augen,
während die Erinnerungen an unzählige unangenehme Familientreffen an ihr vorbeizogen.
Der Onkel,
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