Vergeltung
der immer zu viel trank, die Mutter und die Tante in ihrer
untrennbaren Symbiose und der Vater, der mit jedem Familientreffen schwächer
wurde.
»Es ist serviert.« Die Stimme der Tante hallte durch das Haus, und
Rebekka erhob sich schwer.
Die anderen saßen schon um den ovalen Esstisch, als sie ins
Esszimmer kam. Auf der weißen Tischdecke dampfte der Braten, und der Onkel
versorgte sich bereits mit einer großen Portion Salzkartoffeln. Der Vater schenkte
mit zitternder Hand Wein ein und kleckerte zum großen Ärger der Mutter auf die
Tischdecke. Er wand sich unter ihrem missbilligenden Blick. Sie aßen
schweigend, nur das Klappern des Bestecks war zu hören. Noch einmal prosteten
sie sich zu, und der Wein rann wie eine saure Flüssigkeit durch Rebekkas Kehle
und verursachte ihr Sodbrennen. Das Fleisch war zäh, und sie bekam die
Kartoffel kaum herunter.
»Da hast du dir ja was Schönes aufgehalst mit diesem scheußlichen
Mord«, sagte der Onkel, während er eifrig kaute.
»Das kannst du wohl sagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das
jemand von hier war«, fügte die Tante hinzu. Die Neugier stand ihr ins Gesicht
geschrieben.
»Ich kann mich zu der Ermittlung nicht äußern.« Rebekka putzte sich
mit der steifen Serviette den Mund ab. »Tut mir leid.« Sie hob entschuldigend
ihr Weinglas.
»Ich bin nach wie vor überzeugt, dass das dieser Rowdy war, dieser
Alex irgendwas«, brummte der Onkel und griff nach der Platte mit dem Braten.
»Und das arme alte Ehepaar«, unterbrach ihn die Tante. »Gut, dass
ihr ihn festgenommen habt. Ich hoffe, dass er lange hinter Gitter kommt«, sagte
sie und leerte ihr Weinglas in einem Zug.
Onkel und Tante ergingen sich in einer lautstarken Debatte über die
steigenden Kriminalitätsraten und die waltende Milde seitens der Regierung
gegenüber Straftätern, einer Debatte, die sie mit Vergnügen führten, wann immer
sich die Gelegenheit dazu bot. Hin und wieder warfen sie Rebekka einen
entrüsteten Blick zu, als wäre sie als Repräsentantin der Ordnungsmacht für das
Ganze verantwortlich.
»Rebekka wird den Fall schon aufklären«, unterbrach sie der Vater
mit stolzer Stimme, und alle sahen Rebekka zweifelnd an, deren Handy in diesem
Moment laut in der Tasche klingelte. Es war nicht Dorte, sondern der diensthabende
Beamte, Kjøller, der ihr mitteilte, dass Gerda Eriksen, die Mutter der
verstorbenen Lene Eriksen, gerne mit der leitenden Ermittlerin sprechen wolle.
Durch den Mord an Anna Gudbergsen seien die Erinnerungen wieder hochgekommen,
und sie brauche jemanden zum Reden, erklärte er. Rebekka bekam die Adresse. Mit
einem traurigen Gesichtsausdruck ging sie zurück ins Esszimmer und zeigte
bedauernd auf das Handy.
»Die Arbeit ruft, ich muss leider los.«
»Wie ärgerlich, mein Liebes.« Der Vater sah aus, als würde er
aufrichtig bedauern, dass sie aufbrechen musste, während der Mund der Mutter
sich zu einer schmalen Linie verzog. Das Handy klingelte erneut, und Dortes
Telefonnummer erschien auf dem Display.
»Du bist aber gefragt«, brummte der Onkel, und der Vater sah Rebekka
stolz an, die sich entschuldigte. Nachdem sie sich für das Essen bedankt und
verabschiedet hatte, stürmte sie zum Auto.
—
»Kommen Sie herein.«
Gerda Eriksen war eine kleine,
zierliche Frau mit grauen Locken und einem Zigarillo im Mundwinkel. Sie trug
einen dunkelblauen Kittel, als würde sie gerade putzen. Sie wirkte nervös und
rang ihre mageren Hände, während der Rauch in der kleinen Diele nach oben
stieg. Rebekka zeigte ihren Ausweis und trat in die Wohnung, die einer
Ausstellung aus den Achtzigerjahren entsprungen zu sein schien.
Rebekka konnte das Wohnzimmer mit den lachsfarbenen Wänden hinter
Gerda Eriksen erahnen, schwarze Ledermöbel und einen großen ovalen Esstisch aus
Marmor und die passenden goldenen Stühle dazu. An den hellroten Wänden in der
Diele hingen mehrere getrocknete Blumensträuße, eine Reihe kleinerer gerahmter
Fotografien und ein großes Plakat mit den charakteristischen farbenfrohen
Papageien des Künstlers Walasse Ting. Man hatte das Gefühl, dass die Zeit seit
1984 stehen geblieben war. Gerda Eriksen sah sich entschuldigend um.
»Ich habe nicht viel verändert, seit Lene tot ist. Irgendwie habe
ich es nicht geschafft.« Sie lächelte Rebekka unsicher an, die spürte, wie sich
langsam ein dunkles Gefühl in ihrem Bauch ausbreitete. Ihre Mutter hatte auch
nichts verändern wollen.
»Ich habe ihr Zimmer genauso gelassen, wie es damals war.«
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