Vergeltung
Rebekka schlug es auf. Durch das eingedrungene Wasser konnte man mehrere
Namen und Adressen nur teilweise lesen. Sie blätterte die Seiten um, während
sie versuchte, die zerflossenen Buchstaben zu entziffern, und stieß auf einige
ihr unbekannte Namen und Adressen. Hinten ins Buch hatte Lene den Namen Jens
Anker und eine Telefonnummer notiert. Rebekka schluckte. Das musste die des
Therapeuten sein, da es wohl kaum zwei Personen mit diesem sonderbaren Namen in
Ringkøbing gab. Sie vermutete, dass er bei seinem Berufswechsel den Nachnamen
Andersen abgelegt hatte. Lenes Sachen lagen versiegelt in durchsichtigen
Plastiktüten, und Rebekka sah sich die Blutflecken auf der Bluse an, die eher
wie Rostflecken als wie Blut aussahen. Sie las sich die Alibis der Personen für
den fraglichen Abend durch und machte sich Notizen. Lenes Mutter, Gerda
Eriksen, hatte gearbeitet, als die Tochter ermordet wurde. Der Vater, der
Zimmermann Alf Eriksen, lebte zum Zeitpunkt des Mordes in Middelfart und hatte
eine neue Familie gegründet, mit der er an dem fraglichen Abend zusammen
gewesen war. Jane Mathiesen wohnte noch immer zu Hause, und ihre Eltern hatten
bestätigt, dass die Tochter Kopfschmerzen gehabt hatte und zeitig zu Bett
gegangen war. Die Mutter hatte im Lauf des Abends mehrere Male nach ihr
gesehen. Nur John Mathiesen hatte für den Zeitpunkt der Tat kein Alibi. In
seiner Aussage erklärte er, dass er den ganzen Abend auf seinem gemieteten
Zimmer verbracht habe. Er habe gelernt, sagte er, doch die Beamten hatten
notiert, dass er nervös wirkte und mehrere Male seine Aussage änderte. Im einen
Moment war er mit Lernen beschäftigt gewesen, im nächsten hatte er ferngesehen,
ohne angeben zu können, was er gesehen hatte.
»Hallo, sitzt du hier mutterseelenallein herum?«
Rebekka fuhr zusammen, als Michael den Kopf in ihr Büro steckte.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er und trat
ein. Sie streckte sich, merkte, dass sie in der Lendengegend verspannt war.
»Der Fall Lene Eriksen hat mich total gefesselt. Es gibt unglaublich
viele Parallelen zu unserem aktuellen Fall. Ich bin mir ziemlich sicher, dass
es sich bei Lenes und Annas Mörder um ein und dieselbe Person handelt.«
»Erzähl, erzähl. Ich habe dir nämlich auch etwas zu berichten.« Er
setzte sich auf die Kante ihres Schreibtisches, der gefährlich knackte. Rebekka
zeigte ihm Jens Ankers Namen in Lenes Adressbuch, und Michael stieß einen
lauten Pfiff aus.
»Ich habe gerade mit ihm gesprochen, und er hat geleugnet, Lene
näher gekannt zu haben, hat nur gesagt, dass sie eine Schülerin unter vielen
war«, knurrte Michael und ärgerte sich, dass er dem Therapeuten nicht härter
zugesetzt hatte.
»Also ich habe mir nicht die Telefonnummern meiner Lehrer in meinem
privaten Adressbuch notiert, als ich aufs Gymnasium gegangen bin«, sagte
Rebekka.
»Das kann man mir auch nicht nachsagen«, stimmte Michael zu und
kratzte sich am Kopf. »Hatte Jens Anker damals ein Alibi für den Abend?«
Rebekka wühlte in den Unterlagen und blickte ihn müde an.
»Ich habe mir nur einige der Befragungen angesehen, die Polizei hat
über tausend durchgeführt«, stöhnte sie.
Sie gingen die Stapel durch, bis Michael innehielt.
»Hier ist Jens Ankers Aussage«, sagte er und überflog die
maschinengeschriebenen Seiten, bevor er Rebekka mit leuchtenden Augen ansah.
»Weißt du was, unser guter Therapeut hatte kein Alibi für den Abend, an dem
Lene Eriksen ermordet wurde.«
»Das hatte John Mathiesen auch nicht, und die Polizei hat angeführt,
dass er nervös war und seine Aussage mehrere Male geändert hat.«
»Wir nähern uns der Lösung«, sagte Michael und machte sich an die
Gummibären.
»Jens Anker und John Mathiesen hatten kein Alibi, aber auch Kristian
Mathiesen bereitet mir Kopfzerbrechen. Die Sache mit den Golfschlägern und
seine kleinen Unwahrheiten. Und dann haben wir da noch Gert Gudbergsen«,
seufzte Rebekka. Dann fügte sie schnell hinzu: »Aber Kristian kann wohl kaum
Lene Eriksen umgebracht haben, da er damals noch gar nicht geboren war. Und
Gert Gudbergsen lebte zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht in Dänemark, sondern in
Stockholm.«
»Kristian Mathiesen könnte ein Nachahmungstäter sein. Das erleben
wir nicht zum ersten Mal. Wie der Vater, so der Sohn«, meinte Michael und wurde
von dem lauten Klingeln seines Handys unterbrochen, das sie beide
zusammenzucken ließ.
»Michael.«
Rebekka sah ihn an, während er die Stirn runzelte und
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