Vergeltung
andere
Mordfälle kamen, doch Ryan Sullivan vergaß nie die kleine Doreen und nahm den
Fall immer wieder auf. Er befragte noch einmal die alten Zeugen und besuchte
regelmäßig die verzweifelte Mutter des Mädchens mit dem Versprechen, den Fall
aufzuklären. Als Rebekka ihn in dem Camp des FBI traf, waren knapp zwanzig
Jahre vergangen, seit man Doreen Richards ermordet aufgefunden hatte. Ryan
Sullivan erzählte ihr eines Abends von dem Fall, als sie draußen vor ihren
Hütten saßen und im Schein des Feuers ein Sixpack teilten. Rebekka erinnerte
sich an sein Gesicht im Schein der Flammen, an die schlaffe Haut, die um die
Mundwinkel hing wie bei einem Bluthund, und an die tiefen Sorgenfalten, doch
vor allem an den ohnmächtigen Ausdruck in seinen bernsteinfarbenen Augen.
» I can’t let her go, Rebekka « , sagte er leise, ohne den Blick von den tanzenden Flammen
zu heben. » I just can’t let her go. «
Ryan Sullivan war bei Weitem nicht der einzige Ermittler, den
unaufgeklärte Mordfälle quälten. Sie fürchtete, dass es ihr genauso gehen
könnte, wenn sie den Mord an Anna nicht aufklärte. Sie stellte sich vor, wie
Anna sie Nacht für Nacht in ihren Träumen heimsuchte, sie mit einem
vorwurfsvollen Ausdruck in den schönen grünen Augen ansah, wie die Bilder mit
den Jahren schwächer wurden, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Dazu durfte sie
es nicht kommen lassen.
Sie tippte Michaels Handynummer ein, doch er ging noch immer nicht
ans Telefon, und Unruhe ergriff sie. Sie rief Kjøller unten in der Rezeption
an, um nachzufragen, ob er von Michael gehört hatte. Fehlanzeige. Sie drehte
sich rastlos auf dem Bürostuhl, außerstande, sich zu konzentrieren. Dann glitt
ihre Hand zu der Schreibtischschublade. Sie griff nach den Unterlagen über Lene
Eriksen, zog vorsichtig Robins Akte heraus und legte sie auf den Tisch, spürte,
wie die Unterlagen in ihrer Hand brannten. Sie starrte den weißen Zettel auf
der Vorderseite an: »Holm, Robin. Geboren: 02.09.1974 – Gestorben: 28.07.1981«. Daneben prangte ein Stempel: »Abgeschlossen, z. d. A.«
Das Blut wich aus ihrem Kopf, das Zimmer drehte sich um sie,
schneller und schneller wie auf einem Karussell, Übelkeit stieg in ihr auf. Sie
wagte nicht, in der Akte zu lesen, warf sie zurück in die Schublade und schloss
sie mit einem heftigen Ruck. Dann stand sie so abrupt auf, dass der Stuhl laut
gegen die Wand knallte. Sekunden später stürmte sie die Treppe hinunter.
—
Michael schlug verwirrt
die Augen auf, als eine Krankenschwester ihn sanft rüttelte. Er spürte den
harten Stuhl unter sich und die Schmerzen im Nacken von der unbequemen
Stellung.
»Ihre Tochter ist jetzt wach. Es
geht ihr gut, obwohl ihr der Bauch natürlich noch etwas wehtut.« Er drehte den
Kopf und sah Amalie in dem Krankenbett liegen. Sie lächelte ihn blass an. Sie
hatten eine dramatische Nacht hinter sich. Er war zu seinen Eltern gefahren, um
sie abzuholen, und gleichzeitig mit dem Notarzt eingetroffen. »Ich habe nicht
gewagt, die Verantwortung länger zu übernehmen, Michael«, hatte die Mutter mehrmals
wiederholt. Nach einer kurzen Untersuchung hatte der Arzt festgestellt, dass
Amalie mit großer Wahrscheinlichkeit eine Blinddarmentzündung hatte. Er hatte
sofort einen Krankenwagen gerufen, der kurz darauf mit Blaulicht in der
Dunkelheit auftauchte. Michael hatte die Hand seiner Tochter gehalten, die
zusammengekrümmt dalag und schwach stöhnte. Er hatte Angst gehabt. Zum ersten
Mal in seinem Leben war Michael Bertelsen vor Angst wie gelähmt gewesen. Die
Angst war physisch fühlbar, wie ein konstanter beharrlicher Sog im Solarplexus.
Die Ärzte hatten schnell und professionell reagiert. Amalie war um ein Uhr
nachts operiert worden. Er war auf dem halbdunklen Gang herumgelaufen, außer
sich vor Sorge, und hatte in regelmäßigen Abständen nach einem Arzt oder einer
Krankenschwester Ausschau gehalten, um ein paar beruhigende Worte zu hören.
Niemand war gekommen. Schließlich war er nach draußen gegangen, und sein altes
Verlangen nach Nikotin hatte sich bemerkbar gemacht, doch er hatte keine
Zigaretten bei sich gehabt, und der Krankenhauskiosk war geschlossen. Er hatte
weinend im Dunkeln auf dem leeren Parkplatz gestanden, während er mit
hektischen Fingern immer wieder Anettes Handynummer eingetippt hatte. Sie hatte
nicht geantwortet, und er hatte eine furchtbare Wut auf sie gehabt – und vor
allem ein schlechtes Gewissen wegen der Scheidung. Nicht auszudenken, wenn sie
Amalie
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