Vergeltung
Mathiesen ihr gleich gegenüberstehen würde. Sie hatte sich
geirrt. Das Büro war leer. Und dunkel. Jemand musste das Licht ausgeschaltet
haben. Sie machte es wieder an und sah sich ungläubig um. Auf den ersten Blick
wirkte alles aufgeräumt. Sie senkte die Pistole, ging zum Schreibtisch und
setzte sich auf den Bürostuhl.
Auf dem Tisch lagen Papiere in ordentlichen Stapeln. Sie blätterte
oberflächlich in einem, Haushaltspläne für den Bau. Mitten auf dem Schreibtisch
stand ein älterer Silberrahmen mit einem großen Farbfoto von Jane Mathiesen.
Die Pfarrersfrau blickte sie an. Sie saß auf einem Gartenstuhl, den dunklen
Wald im Hintergrund. Sie trug ein hellrotes Kleid, das schlecht zu ihrem Teint
passte, lächelte steif in die Kamera und schien sich deutlich unwohl zu fühlen.
Sie tat Rebekka leid. Was würde sie tun, wenn herauskam, dass ihr geliebter
John ein Mörder war? Ihre Welt würde zusammenbrechen. Sie, die alles auf die
Familie gesetzt hatte. Rebekka zog die oberste Schreibtischschublade auf. Sie
war randvoll mit Briefpapier und Umschlägen mit dem neuen Logo der Freikirche,
kleine und große Kreise in Beige und Braun, die sich ineinanderschlangen. Einen
Moment lächelte sie unwillkürlich über das Design, das absolut nicht religiös
wirkte, sondern eher wie das Logo einer Werbeagentur aussah. Sie biss sich
nachdenklich auf die Lippe. Vor wenigen Minuten war das Licht hier drinnen noch
an gewesen. Oder? Plötzlich zweifelte sie an ihrer Wahrnehmung, was
normalerweise nur selten vorkam. Sie war sich so sicher gewesen, so sicher,
John Mathiesen zu überraschen. Sie zog an der nächsten Schublade, aber sie war
verschlossen. Rebekkas Magen krampfte sich vor Aufregung zusammen. Sie suchte
nach einer Büroklammer und öffnete vorsichtig das Schloss. Es gab schnell nach.
Erwartungsvoll blickte sie in die Schublade. Ein Stapel Farbfotos, ungeordnet,
als wären sie in großer Eile hineingeworfen worden. Sie holte die Bilder
heraus. Es waren Fotos von einem, wie es schien, gewöhnlichen Familienessen der
Familie Mathiesen, an dem auch Anna Gudbergsen und das Ehepaar Bækkegaard
teilgenommen hatten. Alle saßen um einen schön gedeckten Tisch, der mit einer
Blumendekoration aus zarten gelben Rosen, vermutlich aus dem Garten, geschmückt
war, und machten einen fröhlichen Eindruck. Die Fotos mussten erst neulich
entstanden sein, die Leute waren von der Sonne gebräunt und trugen Sommerkleider.
Rebekka betrachtete jedes Foto sehr genau, aber ihr fiel nichts auf,
das unmittelbar in die Augen sprang. Sie legte die Bilder zurück in die
Schublade. Warum waren sie unter Verschluss? Sie wollte gerade aufstehen, als
ihre Schuhspitze gegen etwas unter dem Schreibtisch stieß. Sie bückte sich.
Eine zusammengeknüllte Fotografie, die zu den übrigen Fotos zu gehören schien.
Sie hob das Bild auf und strich es vorsichtig glatt. Eine Nahaufnahme von Anna,
Kristian und Erik. Alle drei lachten den Fotografen an und plötzlich sah
Rebekka, wie ähnlich die drei sich sahen. Die gleichen ovalen grünen Augen,
eingerahmt von dichten schwarzen Wimpern, die schmale Nase, der breite Mund mit
den regelmäßigen Zähnen. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man Anna für
eine Tochter der Familie halten. Eine Sekunde später traf sie die Erkenntnis
wie ein Keulenschlag. Was, wenn das wirklich so war? Was, wenn Anna John
Mathiesens Tochter war? Da lag das Motiv. Einen kurzen Moment wurde ihr
schwindlig, dann nahm sie das Telefon vom Schreibtisch, um Teit Jørgensen
anzurufen. Die Leitung war tot, und sie erinnerte sich, dass in dem Haus bisher
weder Telefon noch Internet installiert waren. Verdammt. Sie musste zurück ins Präsidium. Schnell steckte sie das Foto von Anna, Kristian
und Erik in die Manteltasche. Sie wollte gerade aufstehen, als sie einen lauten
Knall hörte. Das Geräusch kam vom Dachboden. Dort oben war jemand. Rebekka saß
einige Sekunden wie erstarrt auf ihrem Stuhl und überlegte, was sie tun sollte.
Dann trat sie schnell auf den dunklen Gang hinaus und schlich zu der Tür,
hinter der die Wendeltreppe auf den Speicher führte. Die Tür stand offen, und
sie spähte ins Dunkel. Nichts war zu hören.
»John. John Mathiesen. Hier ist Rebekka Holm.« Sie ließ ihre Stimme
so autoritär wie möglich klingen, während sie mit wenigen Schritten die Treppe
zum Speicher hinauflief.
»Hallo, ist da jemand?«, rief sie erneut. Niemand antwortete. Sie
hielt die Pistole vor sich und spähte in die Dunkelheit, während die
Weitere Kostenlose Bücher