Vergeltung
wurde mehr
als angedeutet, dass die Polizei den Täter bereits festgenommen habe. Rebekka
sah Annas misshandelte Leiche vor sich und seufzte tief. Die Treibjagd hatte
begonnen. Das Bild von Anna verblasste und ihr Vater mit seinem bittenden Blick
und seinen Lungenproblemen tauchte auf, gefolgt von der Mutter in ihrer
abgrundtiefen Trauer. Sie waren wie Gespenster. Nah und fern zugleich.
Schließlich schwang sie die Beine über die Bettkante, griff nach ihrem Handy,
drückte hastig die Nummer und hoffte inständig, dass ihr Vater an den Apparat
gehen würde. Es klingelte lange, dann knackte es in der Leitung.
»Hallo«, die Stimme ihres Vaters, fragend und leicht verärgert, die
Fernsehnachrichten hatten schließlich gerade begonnen. Rebekka erinnerte sich
plötzlich, wie ihr in der Kindheit eingeschärft worden war, dass es äußerst
unhöflich sei, nach neun Uhr abends anzurufen. Sie sah auf die Uhr. Es war
21.01 Uhr.
»Ich bin’s, Papa, Rebekka.«
»Bekka, du.« Die Freude in der Stimme des Vaters übertrug sich auf
sie. Sie merkte, dass sie lächelte.
»Ja, Papa. Rate mal, wo ich bin? In Ringkøbing.«
Schweigen. War er schockiert?
»Ich bin in Ringkøbing und ermittle im Mordfall Anna Gudbergsen«,
fuhr sie fort. »Ich bin gestern Nachmittag angekommen. Entschuldige, dass ich
noch nicht angerufen habe, aber ich hatte so viel zu tun. Ich musste mich erst
in den Fall einarbeiten.«
»Mach dir keine Gedanken, Liebes.« Der Vater hatte Schwierigkeiten
beim Atmen, sie hörte das leise Pfeifen seines Sauerstoffgeräts.
»Kannst du nicht vorbeikommen? Es ist so lange her, dass du hier bei
uns warst … bei uns zu Hause. Wir können einen Tee machen. Wenn du Hunger hast,
können wir auch ein paar Brote schmieren. Mama nickt«, stammelte er und musste
husten.
Ihr Brustkasten wurde eng, und sie biss sich fest auf die
Unterlippe.
»Aber nur kurz, Papa. Macht euch keine Mühe. Ich komme nur schnell
vorbei, um Hallo zu sagen.«
—
Fünf Minuten später bog
Rebekka in die Einfahrt zu dem kleinen Reihenhaus ihrer Eltern ein. Die Gardinen
waren zugezogen, doch die Lampe in der Einfahrt brannte. Sie ging über den
Kiesweg und hatte kaum die Klingel gedrückt, als ihr Vater auch schon die Tür
aufriss.
»Mein Mädchen.« Er umarmte sie
vorsichtig, als wäre sie aus Glas, und sie lehnte sich kurz gegen seinen
hochgewachsenen schwachen Körper und atmete seinen Duft ein. Er roch gut wie
immer und ein wenig süßlich nach Krankheit. Sie zog den Mantel aus, und sie
gingen ins Wohnzimmer mit den vertrauten, alten Ledermöbeln, die einmal der
Stolz ihrer Mutter gewesen waren, dem Bücherregal mit den vielen gerahmten Fotos,
einige wenige von ihr und viele, mehr, als sie sich erinnerte, von Robin. Ihr
Vater ließ sich in den Sessel fallen, neben dem das Sauerstoffgerät stand. Er
schloss den Plastikschlauch an, schob sich das andere Ende in die Nase und
aktivierte das Gerät, und sogleich erfüllte ein leises, zischendes Geräusch das
Zimmer.
Rebekka sah sich um, fühlte sich plötzlich fremd in ihrem
Elternhaus.
»Wo ist Mama?«
Der Vater zeigte zur Küche, und Rebekka ging zu ihr. Die Mutter
wandte ihr den Rücken zu und klapperte im Spülbecken herum. Auf dem Küchentisch
stand ein Tablett mit drei Teetassen, im Wasserkocher blubberte das Wasser.
Belegte Brote oder Kekse gab es nicht.
»Mama.« Rebekkas Stimme stieg um eine Oktave. Die Mutter hielt inne.
Dann drehte sie den Kopf halb zu Rebekka um.
»Hallo, Rebekka.«
Rebekka überhörte bewusst die Kälte in ihrer Stimme. Sie trat auf
sie zu, während die Mutter ihr in dem karierten Kleid immer noch den Rücken zuwandte.
»Ich werde eine Zeit lang hierbleiben, Mama. Ich ermittle im Fall
Anna Gudbergsen. Hast du sie gekannt?«
Die Mutter schüttelte den Kopf und spülte weiter. Rebekka wunderte
sich kurz, wie es der Mutter gelang, allein durch ihren Rücken eine solche
Missbilligung auszudrücken. Sie hatte Rebekka noch nicht einmal in die Augen
gesehen.
»Mama«, versuchte sie es. »Ich hätte schon vorher anrufen sollen,
das weiß ich. Aber ich hatte so viel zu tun. Die Ermittlung ist kompliziert und
… natürlich finde ich es schwer, wieder hier zu sein.«
Jetzt war es heraus. Rebekka schwieg und legte ihrer Mutter
versuchsweise die Hand auf den Oberarm, die diese mit einer schnellen Bewegung
abschüttelte.
»Mama, heute hat
Rigmor in der Schule gesagt, dass wir bei der Weihnachtsfeier ein Spiel
aufführen …«
Rebekka spricht mit
sanfter, leiser
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