Vergeltung
hing wie eine
blasse Laterne am Himmel, und grauer Nebel lag wie eine dicke Decke über der
Stadt und hüllte jede Straße und jedes Haus ein. Rebekka schauderte in ihrem
dünnen Mantel, schlug den Kragen hoch und ging den Kongevej Richtung Stadt
hinunter. Der Wind rauschte leise und die Bäume und Büsche bewegten sich im
Dunkeln. Das Rascheln mischte sich mit dem Klang ihrer hastigen Schritte auf
dem Pflaster. Ein paar Blätter wirbelten durch die Luft, sie kamen ihr wie
schwarze Klauen vor. Sie ging schneller und spürte die Angst langsam unter ihre
Haut kriechen. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blieb stehen und
sah sich um. Da war niemand, nur Dunkelheit und verschlossene Häuser. Sie ging
mit festen Schritten weiter und tastete in der Tasche vorsichtig nach ihrer
Dienstpistole. Sie seufzte vor Erleichterung, als ihre Finger sich um das
schwere, kühle Metall schlossen. Sie hörte einen schleifenden Laut, widerstand
der Versuchung, sich umzudrehen, und lief das letzte Stück. Sie entspannte
sich, als das gelbe Neonschild des Hotels Ringkøbing vor ihr auftauchte. Sie
musste den Nachtportier durch lautes Klopfen an die Glastür wecken und hätte
ihn vor Freude küssen mögen, als er ihr schließlich öffnete und sie in die
Wärme ließ.
—
Katja legte das Tagebuch
mit zitternden Händen zur Seite. Spürte, wie ihr der Speichel das Kinn hinunterlief,
und wischte ihn geistesabwesend ab. Sie konnte es nicht glauben. Sie konnte
einfach nicht glauben, dass das, was sie gerade gelesen hatte, wahr war. Sie
stieg aus dem Bett. Die Beine gaben beinahe unter ihr nach, so lange hatte sie
in derselben Position verharrt.
Sie sah auf die Uhr. 1.16 Uhr. Sie
hatte fast sechs Stunden gelesen. Mia war irgendwann nach Hause gekommen, doch
da die Tür zu Katjas Zimmer geschlossen war, hatte sie nicht geklopft. Katja
öffnete vorsichtig die Tür zu dem langen, dunklen Gang. Es war still. Sie
schlich sich ins Badezimmer, zog ihren Slip herunter und setzte sich auf die
kalte Klobrille und pinkelte. Sie trödelte, wusch sich die Hände und
betrachtete in der grauen Dunkelheit ihr Gesicht im Spiegel. Einen Augenblick
war sie erschüttert über ihr Aussehen. Sie erkannte sich selbst kaum wieder.
Die Augen waren aufgerissen vor Entsetzen, die Stirn ungläubig gerunzelt. Wie
hatte Anna so leben können? Ohne jemandem davon zu erzählen? Einen Augenblick
erwog sie, Mia zu wecken und sie in die Geheimnisse des Tagebuchs einzuweihen.
Dann verwarf sie die Idee. Sie konnte aus diesem Wissen Kapital schlagen. Sie
wusste jetzt, dass es zwei Personen gab, deren größter Wunsch es war, dass Anna
ihre Geheimnisse mit ins Grab nahm. Sie lächelte sich im Spiegel zu. Clever war
sie schon immer gewesen. Jetzt war Schluss mit Studienschulden und Spaghetti mit
Ketchup.
FREITAG, 31. AUGUST
Rebekka traf nach einer
unruhigen Nacht mit nur wenigen Stunden Schlaf schon früh im Polizeipräsidium
ein. Die Träume von Robin wurden immer heftiger, und allmählich fiel es ihr
zunehmend schwerer, sie morgens abzuschütteln.
Die Sahne bildete kleine Fettinseln
auf dem schwarzen Kaffee, und sie sehnte sich nach einem frisch zubereiteten
Caffè Latte mit warmer, aufgeschäumter Milch. Nichtsdestotrotz trank sie einen
großen Schluck von der Brühe in der Erkenntnis, dass es wohl noch eine Zeit
lang dauern würde, bis sie in Reichweite eines solchen kommen würde. Trotz der
intensiven nächtlichen Suche gab es keine Spur von Anna Jelager. Es war der
Polizei gelungen, Annas Vater, Gregers Johansen, aufzuspüren, der bei einem
Freund übernachtet hatte und deshalb erst um fünf Uhr morgens hatte ausfindig
gemacht werden können.
Er war zusammengebrochen, als man ihn über das Verschwinden seiner
Tochter unterrichtet hatte, und wurde gerade von Teit Jørgensen und David
befragt. Rebekka schlich sich in den Raum und bezog hinten in der Ecke
Position.
Gregers Johansen war ein junger, kräftiger Mann mit blondem
ausgebleichtem Haar und einem Piercing in der einen Augenbraue. Er sah
resigniert zu Rebekka hoch, als sie eintrat. Teit Jørgensen fuhr unangefochten
mit der Befragung fort, während Gregers Johansen auf dem Stuhl hin und her
rutschte und auf die vielen Fragen antwortete. Mitunter mussten sie innehalten,
weil er in heftiges Weinen ausbrach. Er leugnete, etwas über das Verschwinden
der Tochter zu wissen, und hielt daran fest, dass er zusammen mit seinem
Freund, Jon Caspersen, bei dessen Mutter eine Terrasse angelegt habe. Er habe
keine
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