Vergeltung
Probleme mit Katrine und Anna, erzählte er, und er konnte sich nicht
vorstellen, wer auf die Idee kommen könnte, das Kind zu entführen. Jon
Caspersen und dessen Mutter, Rita Caspersen, hatten Gregers Johansens Alibi
bereits bestätigt, und man erlaubte ihm zu gehen, aber er sollte sein Handy
eingeschaltet lassen. Der junge Mann nickte bleich, und Rebekka brachte ihn zur
Tür. Sie verabschiedeten sich, und sie beobachtete ihn, wie er in der grellen
Morgensonne den Bürgersteig entlangging. Er ging vornübergebeugt, und seine Bewegungen
waren steif und unkoordiniert, als müsste er über jeden Schritt nachdenken, den
er machte.
Die folgende Morgenbesprechung war von einer gedrückten Stimmung
geprägt. Teit Jørgensen und Rebekka beschlossen, das Team in kleinere Gruppen
aufzuteilen. Teit Jørgensen wollte in beiden Fällen die Pressekonferenz selbst
leiten. Man sah ihm kaum an, dass er nur wenige Stunden geschlafen hatte. Sein
Anzug war faltenfrei, das Hemd weiß und frisch gebügelt, das gegelte Haar
straff nach hinten gekämmt.
Sie konnten das Murmeln der Journalisten draußen und das unablässige
Klingeln der Telefone hören. Die Presse ließ ihnen keine Ruhe. Es war eine
Sensation, dass Ringkøbing, eine bescheidene jütländische Provinzstadt, sowohl
für einen Mord als auch für das Verschwinden eines Kindes die Kulisse bildete.
Man berief sich auf die gegenseitige Abhängigkeit von Presse und Polizei und
beschloss, die Journalisten gnädig zu füttern, denn so, wie die Dinge lagen,
brauchten sie bei der Suche nach Anna Jelager und der Jagd nach Annas Mörder so
viel Öffentlichkeit wie möglich.
David, Susanne und Egon arbeiteten weiter an dem Fall Anna Jelager.
Durch eine Reihe von Befragungen wollten sie sich baldmöglichst ein genaues
Bild von dem Mädchen und seiner Familie machen. Familie, Freunde, Bekannte,
Tageseinrichtungen und der Hausarzt mussten kontaktiert werden. Susanne sollte
ins Krankenhaus fahren und Katrine Jelager einen Besuch abstatten in der
Hoffnung, sie befragen zu können. Ihnen fehlte noch immer ihre Version des
Handlungsverlaufs.
»Hier sind die Tageszeitungen.« Bettina warf einen großen Stapel
Zeitungen auf den Tisch. Rebekka fiel auf, dass die letzten ereignisreichen
Tage auch an der Sekretärin nicht spurlos vorübergegangen waren. Sie hatte
weder Zeit gehabt, ihre Haarfarbe mit Henna aufzufrischen, noch ins
Sonnenstudio zu gehen, sie sah irgendwie farblos aus.
»Seht euch das an.« Susanne hielt die Titelseite einer der
Boulevardzeitungen hoch. »Ringkøbing, Stadt des Grauens«, war da zu lesen. Eine
andere Zeitung brachte eine Warnung auf der Titelseite: »Passt auf alle Annas
auf!«
Plötzlich stand Albæk in der Tür.
»Ich werde von der örtlichen Bevölkerung mit Anrufen bombardiert,
alle wollen bei der Suche nach Anna Jelager helfen. Soll ich eine Suchaktion
mit Freiwilligen organisieren?«, fragte er und guckte abwechselnd von Teit
Jørgensen zu Rebekka.
Rebekka nickte.
»Eine gute Idee. Wir sind gleich mit unserer Besprechung fertig.
Dann können Sie die Gruppe organisieren«, antwortete sie und zeigte auf
Susanne, Egon und David. »Michael und ich kümmern uns weiter um die
Ermittlungen im Mordfall Anna Gudbergsen«, fügte sie hinzu und hörte, wie
Bettina sich regte. Keiner der anderen nahm Notiz davon, doch Rebekka vernahm
deutlich das Klirren der Armbänder gegen die Tischplatte.
—
Alex erwachte von dem
Trommeln des Regens auf das undichte Dach und dem Klappern seiner eigenen Zähne.
Er bekam die Augen kaum auf, so elend fühlte er sich. Das Fieber wütete in
seinem Körper, er zitterte, konnte weder Arme noch Beine bewegen, und sein Kopf
war so schwer, dass er ihn nicht von dem Sofa hochbekam. Er schloss die Augen,
spürte den heftigen Schlag seines Herzens und sah ein, dass etwas absolut nicht
in Ordnung war. Er nahm Anlauf, sammelte seine ganzen Kräfte und hievte sich
langsam in eine sitzende Stellung. Der Fuß war so stark geschwollen, dass er
nicht länger Ähnlichkeit mit einem Menschenfuß hatte, sondern einem Tier zu
gehören schien. Er war dunkelrot, aus der Wunde floss gelbes Zeug und lange
rote Streifen liefen das Bein hinauf. Ihm schwante, dass die roten Streifen ein
Zeichen für etwas Gefährliches waren, etwas, das umgehend behandelt werden
sollte, aber er wusste nicht, was es war. Schwer ließ er das Bein zurück auf
das Sofa fallen, kleine Staubwolken stiegen auf. Langsam dämmerte es ihm, dass
er aufgeben und Hilfe suchen musste,
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