Vergeltung
wenn er eine Chance haben wollte zu überleben.
Er musste die Hütte verlassen und versuchen, zur Landstraße hinunterzukommen.
Jemand musste doch in dem verdammten Regenwetter unterwegs sein. Er stöhnte
laut vor Anstrengung, als er versuchte, von dem Sofa aufzustehen. Er krabbelte,
bewegte sich wie ein Kind über den schmutzigen Boden zur Gartentür hin. Für die
paar Meter brauchte er mehrere Minuten, und als er sein Ziel erreicht hatte,
war ihm schwindelig von der Strapaze. Er atmete tief durch, wusste, dass er den
Körper in eine senkrechte Position bringen musste, um an das Schloss zu kommen.
Erst beim dritten Versuch gelang es ihm. Mit allerletzter Kraft stieß er die
Gartentür auf, dann fiel er mit dem Kopf zuerst in das regennasse Gras.
—
Mia saß bereits mit einem
Handtuch um den Kopf in der kleinen Küche und aß ein Marmeladenbrötchen, während
sie in der Lokalzeitung blätterte. Sie blickte auf, als Katja blinzelnd in der
Tür erschien.
»Ich wollte dich gerade wecken. Hast
du keine Vorlesung?«, fragte sie mit vollem Mund.
»Mir geht es heute nicht so gut«, log Katja und zeigte auf ihren
Kopf.
»Du hast einfach zu viel geschlafen. Du warst ja schon im Bett, als
ich gestern nach Hause gekommen bin«, antwortete Mia und nahm sich noch einen
Teelöffel Marmelade und verteilte ihn auf dem Brötchen. Katja dachte, dass sie
die vielen Kilos, die sie mit sich herumschleppte und über die sie sich ständig
beklagte, selbst zu verantworten hatte. Nein, da waren sie und Anna schon sehr
viel disziplinierter. Bei dem Gedanken an Anna und das Tagebuch wurde ihr kurz
schwindelig.
»Du siehst auch richtig krank aus«, bemerkte Mia.
Einen kurzen Moment war Katja versucht, der Freundin alles zu
erzählen. Sie in den unheimlichen Inhalt des Tagebuchs und ihre
Erpressungspläne einzuweihen, doch dann stand Mia plötzlich abrupt auf.
»O Gott, ich bin zu spät. Denk dran, dass ich heute zu meinen Eltern
fahre. Ich bin Sonntagabend wieder da. Ich rufe an. Wir müssen ja noch über die
Beerdigung reden, über die Blumen und alles.«
Mia ließ das halb aufgegessene Brötchen liegen und lief aus der Küche.
Der Moment war vorbei, und Katja hörte ein Poltern aus der Diele und kurz
darauf eine Tür, die ins Schloss fiel. Einen Moment lehnte sie sich gegen den
Küchentisch, dann nahm sie den Rest von Mias Brötchen und aß ihn. Sie
schlabberte etwas lauwarmen Kaffee in sich hinein und mit dem Essen kamen die
Kräfte des Vortags zurück. Sie würde das Geheimnis für sich bewahren und ihren
Plan in Angriff nehmen, und zwar heute.
—
Rebekka rief Sanna
Gudbergsen mehrere Male auf ihrem Handy an, doch sie meldete sich nicht. Eine
nagende Unruhe machte sich in ihr breit. Sie musste mit ihr reden, nicht
zuletzt, um zu erfahren, ob das Dokument aufgetaucht war. Egon kam mit einem
Essenstablett vorbei, auf dem ein Glas und ein leerer Teller standen, und sie
folgte ihm in die Küche.
»Egon, gibt es etwas Neues von Anna
Jelager?«
»Leider nein. Knapp hundert Freiwillige suchen im Wald und am
Fjord«, sagte er und zuckte bedauernd mit den breiten Schultern.
»Was Anna Gudbergsen angeht, taucht immer wieder die Familie
Mathiesen in meinen Gedanken auf. Was wissen Sie über sie?«
Egon sah sie ruhig an, dachte gründlich nach, bevor er antwortete.
»Auch nicht viel mehr als andere. Alle kennen sie. John Mathiesen
ist schließlich ein sehr beliebter Mann. Es hat Gerede gegeben, dass seine Weste
nicht ganz weiß sein soll, irgendwas mit irgendwelchen Tochtergesellschaften,
aber das konnten seine Widersacher ihm nie beweisen. Und Widersacher hat er
nicht wenige, trotz seiner Beliebtheit. Man bricht hier in der Stadt nicht
ungestraft mit der Inneren Mission, aber es scheint nicht so, als ließe er sich
davon beeindrucken. Jane Mathiesen ist eine Hausfrau vom alten Schlag. Sie hat
sich immer gut um all ihre Jungs gekümmert, nicht zuletzt um John, und
natürlich um die Gemeinde. Sie bäckt die besten Kekse der Stadt, wenn Sie mich
fragen.«
Egon stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine, während
Rebekka zusah.
»Sie ist schließlich eine Bækkegaard. Die dürften Sie aus Ihrer
Kindheit doch kennen. Sie sind sehr religiös. Ich wurde als Junge von dem Vater
konfirmiert und hatte eine Heidenangst vor ihm, um es einmal milde auszudrücken.«
Egon rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Ich weiß. Er war Furcht einflößend«, stimmte Rebekka ihm zu, und
Egon lächelte.
»Was ist mit den Jungen?«
»Da weiß ich
Weitere Kostenlose Bücher