Vergeltung
nicht viel. Kristian, der Älteste, ist der perfekte
Sohn, habe ich gehört. Das Abbild seines Vaters und ganz klar der Erbe des
Ganzen. Erik hat etwas von einem Einzelgänger, ist etwas speziell, wenn Sie
meine Meinung hören wollen, und der Jüngste, Kenneth, nun ja, er ist einfach
Kenneth.« Egon lächelte Rebekka gutmütig an, die seine Art, die Mitglieder der
Familie Mathiesen durchzugehen, leicht irritierend fand.
Sie drehte sich um, um zurück in ihr Büro zu gehen, als Egon
hinzufügte: »Meine Nichte Pia ist auf dem Gymnasium mit Jane und John Mathiesen
in eine Klasse gegangen. Sie waren übrigens in derselben Klasse wie diese Lene
Eriksen, die vor zwanzig Jahren ermordet wurde. Erinnern Sie sich an den Mord?
Sie müssten damals schon aus dem Kindesalter heraus gewesen sein.«
Rebekka runzelte die Stirn.
»Ich erinnere mich vage. Der Mord wurde nie aufgeklärt, nicht wahr?«
»Das wurde er nicht, nein. Aber ich meine mich zu erinnern, dass die
Polizei John Mathiesen mehrmals verhört hat. Ich kann Pia fragen, was sie weiß.
Sie kommt jetzt irgendwann aus den Ferien nach Hause.«
»Ja, danke, tun Sie das«, antwortete Rebekka, während sie erneut bei
Sanna Gudbergsen anrief.
—
Die Sonnenstrahlen lagen
wie ein Heiligenschein über dem Fjord, und man konnte sich nur schwer vorstellen,
dass diese idyllische Natur den Rahmen für das Verschwinden eines kleinen
Mädchens und den bestialischen Mord an einer jungen Frau bildete. Als Sanna
Gudbergsen weiterhin weder über Handy noch über Festnetz zu erreichen war,
beschloss Rebekka, bei dem Haus am Retortvej vorbeizuschauen. Sie klopfte
wiederholt an, doch es war niemand zu Hause. Sie kletterte auf einen
Gartenstuhl, um für den Fall, dass Sanna Gudbergsen hilflos auf dem Boden lag,
einen Blick durch die Fenster zu werfen, konnte aber niemanden sehen. Alles
machte einen ordentlichen Eindruck. Rebekka fiel auf, dass Sanna Gudbergsens
Volvo nicht da war, und sie überlegte, wo sie hingefahren sein könnte. Sanna
Gudbergsen hatte erzählt, dass sie keine Familie mehr hatte, und es sah nicht
so aus, als hätte das Ehepaar einen großen Bekanntenkreis. Rebekka biss sich
nachdenklich auf die Lippe. Sie beschloss, die paar hundert Meter bis zum Haus
der Familie Mathiesen im Bekkasinvej zu Fuß zu gehen. Sie drückte lange auf die
Klingel, bevor die Tür geöffnet wurde. Jane Mathiesen sah sie erschrocken an.
Rebekka lächelte ihr beruhigend zu und wurde leicht unwillig hereingebeten.
»Wir würden sehr gerne noch einmal
mit Ihren Söhnen reden. Mit allen dreien.«
Jegliche Farbe wich aus Jane Mathiesens Gesicht.
»Ja, aber ich hatte geglaubt, dass Sie den Täter gefunden haben«,
stammelte sie und griff sich nervös an den Hals.
»Dem ist leider nicht so.«
»Ja, aber war es denn nicht Alex Pedersen?«
Jane Mathiesen sah Rebekka nervös an.
»Alex Pedersen wird wegen Körperverletzung an einem älteren Mann
gesucht«, antwortete Rebekka, »das ist alles, was wir zum jetzigen Zeitpunkt
wissen.«
Jane Mathiesen ließ sich auf einen Stuhl sinken.
»Ja, aber der Golfschläger«, murmelte sie.
»Wir haben noch keine Klarheit über alle Details. Unter anderem
deshalb wollen wir gerne noch einmal mit Kristian, Erik und Kenneth reden.«
Einen Augenblick sah es so aus, als würde Jane Mathiesen ohnmächtig
werden, so blass war sie geworden.
»Meine Jungs haben nichts mit dem Mord zu tun«, sagte sie leise,
während sie Rebekka in die Augen blickte. »Nichts.«
Aus dem Flur war ein Rumsen zu hören, und einen Augenblick später
stand Kenneth im Wohnzimmer. Er sah Rebekka erschrocken an. Sie ging auf ihn
zu, während sie ihn freundlich anlächelte.
»Hallo, Kenneth, genau mit dir wollte ich gerne reden.«
»Wollen Sie jetzt gleich mit ihm reden?« Jane Mathiesens Stimme
klang schrill, was Rebekka überraschte. Sie versuchte, ruhig und
vertrauenerweckend zu klingen.
»Ich möchte ihn gerne zu einer formellen Vernehmung im
Polizeipräsidium vorladen, wo natürlich auch ein Repräsentant des Sozialamts
anwesend sein wird …«
»Er hat nichts mit dem Mord zu tun.« Jane Mathiesen stand abrupt
auf, was den Jungen nervös zusammenzucken ließ, dann sagte sie fast
entschuldigend: »Ich muss zuerst mit John reden. Wir müssen schließlich dabei
sein. Er ist so unruhig, seit das mit Anna passiert ist.«
Jane Mathiesen zog den Jungen an sich und streichelte ihm sanft über
die wilden Locken. Der Junge blickte ergeben zu ihr hoch.
»Hör einmal her, Kenneth«,
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