Vergeltung
hilft«, sagte sie, und
Kenneth schniefte und wischte sich die Nase mit der Hand ab. Ein wenig Rotz
blieb in einem leicht grünlichen Streifen an der Wange hängen.
»Superheld hilft Dame«, sagte er freudestrahlend.
»Hast du Anna im Wald gesehen?«, fragte Rebekka und hoffte
inständig, dass die Frage den Jungen nicht erschreckte.
Er antwortete nicht, und sie sah, dass es um seinen Mund gefährlich
zuckte.
»Anna tot«, sagte er und rutschte unruhig hin und her.
Rebekka nickte ruhig.
»Das ist richtig, Kenneth. Anna ist leider tot. Hast du sie in der
Nacht tot im Wald gesehen?«
Er schüttelte entschieden den Kopf.
»Anna tot«, sagte er erneut und verstummte, während sein Blick zum
Fenster wanderte.
Rebekka beobachtete ihn. Würden die Bäume keinen Schatten werfen,
könnte man den Tatort mit einem guten Fernglas sehen.
»Was ist im Wald passiert?«, fragte sie, doch Kenneth war mit ein
paar Autos auf dem braunen Schreibtisch beschäftigt und antwortete nicht.
»Kenneth, komm hier herüber«, versuchte sie es stattdessen und winkte ihn zum
Fenster. »Guck mal hinaus, siehst du den Wald? Was ist dort mit Anna passiert?«
Kenneth sah von den Autos auf und warf einen schnellen Blick aus dem
Fenster, dann verzog sich sein Gesicht zu einer grotesken ängstlichen Grimasse,
als sähe er einem unheimlichen Ungeheuer direkt ins Gesicht.
»Kein Wald mehr, kein Wald mehr«, sagte er und verzog sich in die
hinterste Ecke des Zimmers. Rebekka folgte ihm und ließ sich neben ihm auf dem
Boden nieder. Sie saßen ein paar Minuten stumm da, bis sie merkte, dass der
Junge sich etwas beruhigt hatte.
»Hast du Angst vor dem Wald, seit Anna ermordet wurde?«
Er nickte.
»Hast du Anna dort gesehen, als sie tot war?«
Der Junge rupfte ein Stück von der karierten Tapete von der Wand und
riss es in kleine Papierschnipsel, die er auf den Boden fallen ließ.
»War Anna tot, als du sie gesehen hast?«, wiederholte Rebekka ruhig,
obwohl sie Lust hatte, ihn anzuschreien und zu schütteln, damit die Worte aus
seinem Mund purzelten. Er nickte langsam und vergrub das Gesicht in den
fleischigen Händen. Es gelang ihr nicht, mehr aus ihm herauszubekommen, obwohl
sie es noch ein paarmal versuchte. Kurz darauf gingen sie wieder hinunter und
wurden von John und Jane Mathiesen in Empfang genommen, die sie mit bekümmerter
Miene ansahen.
»Konnte Kenneth Ihnen helfen?«, fragte Jane Mathiesen.
»Ich glaube, es wäre am besten, wenn er zu einer offiziellen
Vernehmung kommen würde, aber wir haben uns nett unterhalten, nicht wahr,
Kenneth?«, sagte sie und drückte seinen Arm.
»Kette«, sagte er plötzlich und beugte sich zu ihr vor und zeigte
auf ihre Kette, ein kleines diskretes Diamantkreuz, das normalerweise unter der
Bluse versteckt, jetzt aber hervorgerutscht war und in der dunklen Diele glitzerte.
Rebekka blieb abrupt stehen, griff nach ihrer Halskette und sah
Kenneth ernst an.
»Was meinst du«, fragte sie. »Was ist mit der Kette?«
»Kette«, wiederholte der Junge, bevor er von seiner Mutter unterbrochen
wurde.
»Manchmal versteht man nicht ganz, was er meint. Das ist eben so …
bei dieser Krankheit. Ich glaube, er findet Ihre Kette schön«, erklärte Jane
Mathiesen unschuldig und zog den Jungen an sich.
»Kenneth, du darfst dir im Keller ein Eis holen«, sagte sie laut und
erinnerte Rebekka an einen Hundetrainer, der sein Können demonstriert. Der
Junge trollte sich.
»Findest du das eine gute Idee, ein Eis so kurz vor dem
Abendessen?«, fragte John Mathiesen und warf seiner Frau einen ärgerlichen
Blick zu.
»Ach, hin und wieder schadet es nichts, die Regeln zu brechen«,
flötete seine Frau und blinzelte Rebekka vertraulich zu, die sich schnell
verabschiedete. Als sie kurz darauf in ihrem Auto saß, war sie sicher, dass
Kenneth ihr etwas Wichtiges hatte erzählen wollen. Er musste so schnell wie
möglich zu einer Vernehmung aufs Präsidium kommen.
—
Rebekka hatte die Wahl:
Entweder kehrte sie ins Hotel zurück, nahm ein Bad und zog sich für das Essen
um oder sie fuhr ins Präsidium, um Berichte zu schreiben und sich nach den
letzten Neuigkeiten im Fall Anna Jelager zu erkundigen. Sie roch an ihrer Bluse
und machte sich pflichtbewusst auf den Weg ins Polizeipräsidium.
In dem Moment, in dem sie das
Gebäude betrat, spürte sie die niedergedrückte Stimmung. Die jungen Polizisten,
an denen sie vorbeiging, sahen mit resigniertem Gesichtsausdruck vor sich hin
und Albæk, der meistens eine muntere Bemerkung
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