Vergeltung am Degerloch
sah. Es war ein gutes Dutzend junger Männer und Frauen, die die Trauergemeinde aufmischten, die sich aus einer Gruppe undefinierbarer Verwandter und Bekannter und einem Trupp Berufsschüler zusammensetzte. An der Peripherie wartete jene Sorte alter Frauen, die wie meine Mutter auf jede Beerdigung ging, wohlorganisiert mit Gebinden und Beileidsworten. Die Journaille hatte Uwes Mutter bereits identifiziert, eine dickbeinige Putze in kamelfarbenem Wintermantel, die sich emotionslos anzoomen ließ. Ihr Gesicht war grob zusammengehauen von Last und Leid eines ärmlichen Lebens und hatte für den Trauerfall keinen besonderen Ausdruck mehr übrig. In der Kapelle saß sie dann allein in der ersten Bank. Dann folg te sie schwerfällig dem Sarg. Hinter den Schwarzgekleideten und den Berufsschulschülern der Schwarm von Journalisten auf den feuchten Kieswegen. Einige, unter ihnen Krk, stiegen durchs Gebüsch über Grabplatten, um den Pfarrer und die Mutter zusammen aufs Bild zu bekommen.
Als sich die Reporter nach vollzogenem »Asche zu Asche, Staub zu Staub« an sie ranmachten, um Gefühle zu erfragen, gab sie achselzuckend Auskunft über den lieben, hilfsbereiten Jungen, der stets folgsam und häuslich gewesen war. Sie leider immer auf Arbeit, vor allem nach dem Tod ihres Mannes, »’s schenkt einem ja keiner was.«
Frau Häberle hatte ihren ostpreußischen Zungenschlag auch nach vierzig Jahren im Schwäbischen noch nicht abgelegt. Sie war bis heute Flüchtling. Ihr Mann hatte bei den Amis in der Kaserne gearbeitet. Dann ein Arbeitsunfall. Uwe, ein Nachschrabsel, wie die Ostpreußen sagten, ein Spätling, immer fleißig und lieb, vor allem mit den Tieren. Nie ein böses Wort gegen die Mutter. Sogar das Auto habe er abschaffen wollen, damit sie nicht mehr so viel arbeiten müsse. »’s schenkt einem ja keiner was. Und den Asylanten schiebt man’s noch hinten rein.«
Die Schüler aus dem Fleischereimeisterkurs der Hoppenlau-Schule drucksten herum. Keiner wollte so recht raus mit der Meinung. Der Lehrer diktierte den Journalisten, dass Uwe ein fleißiger, begabter und anstelliger Schüler gewesen war, ein rechter schwäbischer Tüftler, der es wie kein anderer verstanden hatte, Brät zu würzen, Brühwürste herzustellen, Fleischplatten anzurichten und Rinderhälften zu zerlegen. »Der hatte ein Gefühl fürs Fleisch.«
»Die Frau, die den auf dem Gewissen hat«, brach es aus einem Schüler, »die muss weg!«
Auf der Rückfahrt diktierte ich Krk den Artikel: »Trauernde Mutter versteht die Welt nicht mehr. Friedliebendes Muttersöhnchen fällt blindem Männerhass zum Opfer. Kollegen bestätigen: Angehender Metzgermeister konnte keiner Fliege was zuleide tun. Aber wieso um Himmels willen verlangt ein junger Mann von seiner Mutter, dass sie das Auto abschafft?«
»Die jungen Leute sind doch heutzutage alle so umweltbewusst.«
»Aber doch kein Halbstarker aus Böblingen, der immer auf den letzten Bus rennen muss, wenn er in Stuttgart im Kino war.«
»Oder die Mutter hat geschwindelt«, mutmaßte Krk. »Sie konnte das Auto nicht mehr bezahlen und es war ihr peinlich, das zuzugeben.«
»Aber doch nicht, wenn sie gerade Wert darauf legt, sich als benachteiligt hinzustellen.«
»Und was schließen wir daraus?«, fragte Krk.
Ein Panda wechselte plötzlich die Spur. Ich musste mit ganzer Kraft in die Eisen steigen. Krk bremste mit.
»Vielleicht hat Uwe Nachbars Katzen erwürgt, um sie hinterher fachgerecht zu zerlegen«, sagte ich. »Wir sollten uns mal sein Zimmer ansehen.«
»Hm.«
Krk igelte sich ein und brütete. »Was halten Sie von der Mutter?«, fragte er nach einer Weile.
»Ich halte nichts von Müttern.«
»Sie glauben doch nicht, dass die Mutter daran schuld ist, dass Uwe – wie Sie vermuten – sexuell anomal war.«
»Mütter sind an allem schuld. Außerdem ist Uwe als Vergewaltiger nicht anomal. Er übt nur sein gutes Recht aus.«
»Ach, hören Sie doch auf mit diesem Quatsch! Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt, dass der Junge ein Vergewaltiger war.«
»Jeder Mann ist ein potenzieller –«
»Jaja! Aber das heißt nur, dass er es rein biologisch könn te, nicht, dass er auch seelisch dazu imstande wäre.«
»Sie müssen es ja wissen«, sagte ich und zielte in den Vaihinger Stadtverkehr zwischen Brauerei und Obstsäften.
»Was wollen Sie damit sagen?«
Ich war etwas irritiert. Keiner, der die Wahrheit fürchtete, bat darum. Womöglich war das mit der Schülerin etwas anders gelaufen, als
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