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Vergeltung am Degerloch

Vergeltung am Degerloch

Titel: Vergeltung am Degerloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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festgeschweißt. Nach einer Weile knackte die Gegensprechanlage wieder.
    »Was wellet Sie denn?«
    »Es geht um den Vorfall im Juli an der Straßenbahnhaltestelle in Rohr.«
    Es knackte erneut, aber die Tür blieb zu. Dann kam es vom Dach: »Hallo!«
    Wir traten drei Schritte zurück. Susanne hängte sich gefährlich weit aus der Dachgaupe, um uns in Augenschein zu nehmen. Die nächste Straßenlaterne war weit. Krk winkte mit einem Presseausweis.
    »Könnet Sie net morge komme?«, schrie Susanne.
    »Schon, aber es eilt ein bisschen«, schrie ich hinauf. »Übrigens, ich bin von der Amazone .«
    Jetzt zog der Nachbar seinen Rollladen hoch. Susanne verschwand. Der Türsummer summte. Krk stürzte vorwärts, kam aber nicht mehr rechtzeitig an. Er klingelte noch mal.
    Die Wohnung bestand aus schrägen Wänden und aus Ikeamöbeln. Im Wohnzimmer, das gerade mal ein Sofa breit war, saß ein junger Mann breitbeinig und angezogen mit einem Gesicht, als sei nichts gewesen. Susanne bat uns in die Sessel.
    »Und Sie send wirklich von der Amazone ?«
    Bislang hatte mir die Amazone noch nie Türen geöffnet.
    »Wie isch sie denn so, die Louise Peters. Ich kenn sie ja nur aus dem Fernsehe.«
    »Ich schlage vor, Sie besuchen uns mal.«
    »Echt? Des würd gehe? Hansi, hasch ghört?«
    Hansi hatte es gehört. Er pflanzte die Bierflasche zwischen die Beine.
    »Und Sie?« Susanne fixierte Krk.
    »Er ist vom Anzeiger . Wir arbeiten in dieser Sache zusammen. Eine Freundin von mir …«
    Krk unterdrückte ein Feixen.
    »… ist kürzlich von einem jungen Kerl auf der Straße angegriffen worden. Er hatte ein Messer …«
    »Und Sie moinet, des isch derselbe?« Susanne war eine knubbelige Frau mit lustigen braunen Augen im Plattgesicht, eine von der tatkräftigen, temperamentvollen Sorte, die in jeder Lage geistesgegenwärtig den eigenen Vorteil erkennt. So hatte sie damals, als der Junge nachts um halb elf vom Bahndamm her auf den Hochbahnsteig der S-Bahn-Haltestelle Rohr kam, instinktiv – wie sie meinte – Gefahr gewittert.
    »Was hatte er an?«
    »Jeans und eine braune Lederjack. Wildleder. Sonderangebot vom Kaufhof.«
    Und jung war er gewesen, um die zwanzig, ein wenig linkisch, irgendwie steif. Pickel im Gesicht, blond, die Haare wie ausgerissen oder abgefressen, als hätte er sie sich selber vorm Spiegel verschnipfelt. Erst hatte er eine Weile herumgestanden, dann hatte er plötzlich ein Messer in der Hand und packte sie am Arm. »Wenn du schreist, bring ich dich um«, zitierte Susanne. »Und ich hab gsagt: Was willsch’n nachher mit der Leich?« Sie kicherte. »Mir isch nix Bessres eigfalle.«
    Offenbar hatte es genügt, um den Jungen zu irritieren. Sie riss sich los, trat, schrie und fäustelte. Der Kerl rannte weg. Das Ganze ging schnell und war auch nicht sonderlich erschreckend. Erst hinterher war ihr die Sache doch gefährlich vorgekommen, und sie war anderntags zur Polizei gegangen. Dort hatte man ein Phantombild erstellt.
    Ich bedauerte, dass wir kein Foto von Uwe hatten. Susanne versprach, noch mal zur Polizei zu gehen und sich ein Foto von Uwe vorlegen zu lassen.
     

15
     
    »Könnte sein«, sagte ich, als wir wieder im Auto saßen. »Aber ich glaub’s eigentlich nicht.«
    »Warum denn nicht?«
    »Ein Junge von ärmlichem Format besitzt keine zwei Ja cken. Das müssten Sie doch verstehen.«
    »Gefällt Ihnen mein Anzug nicht?«
    Ich startete den Wagen.
    »Uwe könnte doch«, sagte Krk, »die Jeansjacke erst später gekauft haben, zum Beispiel weil Susanne ihn in Wildleder gesehen und beschrieben hatte.«
    »Ich sehe schon«, sagte ich, »Sie hätten Uwe lieber als verklemmten Trottel ohne Erfolg, denn als versierten Frauenmörder.«
    »Ich wollte nur nett sein.«
    Ich steuerte die Neckartalstraße entlang unter der Müllverbrennung hindurch. »Glauben Sie denn immer noch, dass eine Frau einen ihr völlig unbekannten jungen Mann ohne Not auf der Straße erschlägt?«
    In diesem Moment durchfuhr es mich: Gabi war ja keine Frau mehr, falls es stimmte, dass es in Deutschland einen Vater gab, der seine Tochter beschnitt. Aber jede sadistische Männerphantasie wurde an irgendeiner Frau Wirklichkeit. Und Beschneidung war das falsche Wort. Kastration auch. Es war etwas dazwischen. Sie war nicht mal ein Eunuch, kein Zwitter, nicht impotent, auch nicht steril. Gabi kannte – wenn das stimmte – keine Geilheit, keine Lust, keinen Orgasmus. Vielleicht hatte sie in Uwe einen Kumpel gesucht, einen Freund zum Pferdeställen, keinen

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