Vergeltung am Degerloch
keine Person, die tötet.«
»Der Bursche?«
»Der ist gerade mal siebzehn Jahre alt, etwas verklemmt, aber gutartig und verträumt. Gabi hat die Personen, die sie sind, gut im Griff. Sie studiert mit Erfolg. Heulkrämpfe hat sie nur bei mir. Sie ist nie auffällig geworden.«
Das Entscheidende: Der Bursche hätte sich auf der Straße kaum von einem anderen Jungen sexuell bedroht gefühlt. Und als Opferlamm oder Masochistin, als Jungfrau oder Asketin hätte Gabi nicht getötet. »Aber wenn nun wirklich im Moment der Todesangst eine neue Figur entstanden ist: die Mörderin?«, sagte ich.
Hede zuckte mit den schönen Schultern. »Es wäre immer noch kein Mord, sondern Notwehr.«
Womit ich wieder so weit war wie zuvor, wenn auch auf höherem Niveau.
»Und mit welcher Gabi schläfst du? Mit der Jungfrau?«
Hede lächelte nachsichtig. »Ich schlafe nicht –«
»Dann eben Arbeit. Wie viel nimmst du?«
Hede schüttelte den Kopf. Das lange Haar bewegte sich fließend auf der Schulter. »Wenn es dich antörnt, Liebe zu kaufen …«
»Was heißt hier Liebe?« Ich zog meine Geldbörse und leg te zwei große Blaue in eines der Plexiglasregale unter den Fuß einer der Fruchtbarkeitsstatuen. Hedes dunkle Augen wurden hart, oder nannte man das geschäftsmäßig?
»Du bist doch wirklich ein mieser kleiner Kerl«, sagte sie und langte mir unter die beiden Sweatshirts. »Also sag mir, wie du es haben willst. Wer Liebe kauft, der muss auch ordern.«
Ich legte noch einen Hunderter drauf.
13
Marthas Kaffee holte mich in die Welt der Sittlichkeit zurück. Mit angeschmolzenen Schokostücken versetzte Vanillekekse schafften mich zurück in Zeiten, in denen das braune Pulver der Kakaobohne einziger Glücksbringer gewesen war. Frauen, sagten die Ärzte, sollten ab und zu Schokolade essen. Das hilft gegen nervöse Erschöpfung. Doch gegen meine physische Erschöpfung halfen weder Kaffee noch Schokoladenplätzchen. Sie war weltumspannend. Dass der Kater nach sexuellem Kraftsport so schnell kam, lag wohl daran, dass Hedes Liebeskunst nichts mit Liebe zu tun hatte und mir erhebliche Anstrengungen der Schamverdrängung abverlangt hatte. Ich hatte mich übernommen.
Die Buchstabenreihen flossen runter von den Papieren auf meinem Schreibtisch. Die Nummern auf der Tastatur meines Telefons spielten Reise nach Jerusalem. Sie waren nie dort, wo ich sie vermutete. Als Marie mich unterm Tisch erwischte, wo ich versuchte, einen Kugelschreiber zu haschen, der sich schlangengleich davonmachte, dämmerte mir, dass extreme Erlebnisse bei labilen Menschen – oder bei solchen, die nicht wahrhaben wollten, dass ihnen die Dinge außer Kontrolle gerieten – durchaus Bewusstseinsstörungen hervorrufen konnten. Ich schaute zu Marie auf und fühlte mich wie Gabi. Ein unangenehmer Gedanke.
»Ich kann leider nicht verhehlen«, sagte Marie in einer Au ra von Sauberkeit und Kühle, »dass ich etwas enttäuscht bin von dem, was du in der Sache Gabi zustande gebracht hast. Ich denke, auf längere Sicht müssen wir uns einmal überlegen, wo wir dich deinen Begabungen gemäß am besten einsetzen können.«
Ein feiner Ausdruck für Niete.
»Ich bin ganz dicht dran«, nuschelte ich. »Ich habe heute was rausgekriegt …«
Maries Augen bekamen einen besorgten Ausdruck. »Ist dir nicht gut?«
Ich winkte ab. »Hat Louise angerufen?«
»Du kannst dich nicht immer hinter Louise verstecken.«
Das war ein neuer Ton. Der Puffer, den Louise zwischen mir und der Redaktion bildete, begann zu bröckeln. Aufstand zeichnete sich ab.
Ich raffte mich auf. »Wir suchen jetzt nach Frauenleichen, die auf Uwes Konto gehen können.«
»Wer ist wir?«
»Ein Journalist vom Anzeiger und ich.«
»Doch nicht dieser Kraus?«
»Er hat immerhin gute Kontakte zur Polizei. Und ich brauche Einzelheiten.«
»Ich denke«, sagte Marie, »wir sollten uns mehr auf die argumentative Verteidigung konzentrieren. Es gibt die reale Bedrohung in U-Bahnen, auf dunklen Straßen für alle Frauen. Was Gabi passiert ist, kann jeder passieren. Frau wehrt sich gegen einen vermeintlichen oder realen Angreifer. Denn eine Frau, die sich nicht wehrt – das zeigt deine eindrucksvolle Liste ermordeter Frauen immerhin –, wird allzu schnell Opfer.«
»Aber wenn erst einmal bekannt ist, was mit Gabi wirklich los ist«, widersprach ich, »dann wird niemand mehr danach fragen, wie Uwe sich verhalten hat. Dann heißt es nur noch Männerphobie.«
»Wenn du deine Informationen von Hede hast, dann
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