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Vergeltung am Degerloch

Vergeltung am Degerloch

Titel: Vergeltung am Degerloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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bremste. Da war eine Ausbuchtung in der Straße, ein gerade zwei Wagenlängen langer Parkplatz mit einem Kasten für Streugut und einem Mülleimer.
    Uwe stieg aus, wechselte über die stockfinstere Landstra ße, sprang über den kleinen Graben zwischen Straße und Fußweg und ging dem Fahrradlicht entgegen. Als Aurica an ihm vorbeiwollte, riss er sie vom Rad. Er zeigte ihr das Messer: »Wenn du schreist, bist du tot.« Dann zog er das Mädchen vom Weg hinunter unter die Obstbäume.
    Es waren vielleicht zwanzig an der Zahl, die in einer Doppelreihe auf weichem Grund von der Straße wegliefen. Maulwurfshügel und Mäusegänge allenthalben.
    Uwe zerrte Aurica ein Stück fort. Dann forderte er sie auf, sich auszuziehen. Sie bibberte und leckte Tränen von den Lippen. Eine Novembernacht war an sich schon Grund genug, nicht mal den Schal abzulegen. Vielleicht gelang dem Kind sogar die Flucht, als Uwe das Messer einmal kurz ablegte, um sich selbst zu entblößen. Vielleicht rannte sie aber in die falsche Richtung. Uwe wurde ruppig und drohte: »Mach so was nie wieder, oder …« Sie gewann den Eindruck, sie könne davonkommen, wenn sie nur brav war. Uwe kam über sie und stieß zu, zuerst unten, dann mit dem Messer. Ihr Körper bäumte sich auf. Lieber hätte er alles bei Tageslicht gesehen. Als er kam, war Aurica still. Uwe ritzte mit den Rasierklingen noch ein wenig an ihr herum. Im Licht eines noch fast vollen Mondes war das Blut schwarz wie Lack. Vielleicht war Auri ca noch nicht tot, sondern verblutete langsam, während er pro bierte, ob sich die Brustwarzen tatsächlich abschneiden lie ßen, so wie er es in einem Video mal gesehen hatte.
    Ich war am Ende der Obstbaumwiese angelangt. Ein von Gras verhängter Graben trennte die Wiese vom angrenzenden Acker, dessen Schollen in der Wintergare zerfielen. Ich schob das welke, in großen Garben in den Graben hängende Gras auseinander. Ein Zombiegesicht schielte mich an.
    Ich rannte weg wie ein Kind, das beim Zündeln die Scheu ne in Brand gesteckt hat. Die Obstbäume wurden zum Labyrinth. Ich versuchte den Geruch auszuschnauben, dieses feine, süß liche Nichts, das mehr Einbildung als Realität war. Das lausi ge Grinsen, das maulsperrige Hohngelächter, seine gespreizten Rippen, das mottenzerfressene Schädelhaar, den Anblick von Gevatter Tod habe ich nie wirklich aus meinem Bilderspeicher löschen können.
    Da war der Mops des Alten, über den ich stolperte. Das Tier quietschte und der Mann schüttelte die Faust. Als ich im Auto saß, sprang zuerst der Scheibenwischer auf und nieder, ehe ich die Zündung fand. Ich rammte den Gang rein, aber Emma hüpfte rückwärts statt vorwärts. Ich sah ein, dass ich nichts mehr tun konnte.
    Der junge Polizist mit der schlecht sitzenden Hose im Polizeirevier von Herrenberg griff sofort zum Telefon.
     

24
     
    Blieb die Frage, wen ich anrufen konnte. Ich musterte die Fensterrahmen meiner Wohnung – rauf, rüber, runter – und schickte den Blick in die Ecken – runter, rauf. Der Kaffee wurde kalt, meine Hand auf dem Telefon auch. Dämmerung krümelte in den Ecken. Allmählich sah ich nichts mehr. Sally war nicht daheim. Sie hatte Spätdienst im Sender.
    »Was geht uns jetzt noch die Vermisste von Böblingen an?«, sagte ich. »Wir haben eine Leiche.«
    Sally begriff sofort. »Ich habe jetzt keine Zeit. Aber ich bin um Mitternacht fertig. Hol mich doch ab.«
    Bis dahin waren es mehr als vier Stunden. Die Flasche Calvados würde höchstens über eine halbe Stunde helfen, und dann war ich nicht mehr imstande, Sally vom Sender abzuholen. Der Fernseher war mir zu bunt und zu laut, Glühbirnenlicht im Dezember zu gemütlich. Ich musste raus. So etwas wie Schneeflocken, die eigentlich scharfe kleine Eiskristalle waren, schossen vor dem Wind her und zuckten in winzigen Verwehungen über den Fußweg. Calvados und Kälte vertrugen sich schlecht. Ich torkelte gegen das Schaufenster einer Parfümerie.
    Saturday night war im Aufbruch. Die Straßenbahnen brachten die Kids in die Stadt. Die Stadtwärtsspur der Ne ckarstraße wurde eifrig berast. Ich wankte auswärts und kam am Trödler vorbei. Drinnen gab es zu viele Leute, die sich zuprosteten. Der Gevatter schwang die Sense und warf mich rückwärts wieder aus dem Laden.
    Ich ging die Werderstraße hinauf. Die anthroposophische Festung des Süddeutschen Rundfunks trotzte der Nacht (und der Fusion mit dem badischen Sender, die ihn zwei Jahre spä ter ereilte). Hinter den konischen Fenstern der

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