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Vergeltung am Degerloch

Vergeltung am Degerloch

Titel: Vergeltung am Degerloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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oder Verwaltungsbeamtin würde ich nicht werden. Heute denke ich ein bisschen anders.« Sie lächelte. »Aber der Zug ist abgefahren. Regierungsrätin wäre nicht schlecht gewesen. Oder Staatsministerin.« Sie griff in die Papiere auf ihrem Schreibtisch. »Und nun sei so gut … Ich habe eine Unmenge zu tun.«
    Ich verließ das Büro. Martha schaute mich mit sorgenvollen Augen an.
    »Alles in Ordnung«, sagte ich.
    Martha seufzte lautlos.
    »Hebt Louise irgendwo ungedruckte Aufsätze von uns auf?«, erkundigte ich mich.
    »Du meine Güte, das glaube ich nicht.«
    Es wäre ja auch zu leicht gewesen. Und vermutlich war es auch nicht so wichtig. Warum sollte ausgerechnet Maries Interview mit Hede der Schlüssel zu allem sein.
    Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Und doch! Ich stellte mir die kühle Marie vor, die sich gegen Hedes Zudringlichkeiten wehrte. Das musste für die Juristin aus der Männerwelt eine erschreckende Erfahrung gewesen sein. So wie ich Loui se kannte, hatte sie Marie nur zu einem Zweck zu Hede geschickt, nämlich um herauszubekommen, wo Maries erotische Schwächen lagen. In ihrem Text hatte die noch unerfahrene Journalistin dann alles offenbart: Angst, Abscheu und gehei me Faszination. Louise konnte Texte gegen den Strich bürsten. Ich war sicher, sie hatte Marie völlig ausgezogen.
    Ich kannte Marie nur gepanzert mit Vernunft und Klugheit. Über persönliche Beweggründe gab sie keine Auskunft. Ihr Tun war stets rational erklärbar. Und doch hatte es einen Bruch in ihrer Biografie gegeben, der sie aus dem juristischen Fach in den Feminismus katapultiert hatte. Richterin hatte sie nicht werden wollen. Vielleicht war die geheime Rechnung, die sie mit der Juristerei offen hatte, schuld daran, dass sie es im Fall Gabi darauf anlegte, das Mädchen nach allen Regeln der Kunst in ein Gerichtsverfahren zu schieben. Als ob sie auf eine Verurteilung wartete, gegen die sie dann intellektuell zu Felde ziehen konnte.
    Und sie wusste die Mutter auf ihrer Seite. Martha sagte: »Es musste ja mal so weit kommen.« Sie hatte die Disziplinierung der unartigen Tochter in fremde Hände gelegt, die der Psychologen und Richter. Marie sagte: »Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit hat Uwe Gabi bedroht«, und hetzte mich in Recherchen gegen Uwe. Dann kam Karin Beltz und sagte: »Auch wenn Gabi bedroht war – solange keine körperlichen Verletzungen vorliegen, sieht die Selbstverteidigung mit Todesfolge nach Unverhältnismäßigkeit der Mittel aus und Gabi muss unter Verfolgungswahn gelitten haben.« Daraufhin legte Marie fest: »Wir weisen nicht nach, dass Uwe Gabi vergewaltigen und töten wollte, sondern, dass Gabi das glauben musste. Und dann klagen wir die Männergewalt an und die Justiz, die diese Männergewalt mit andern Mitteln fortführt.« Damit das klappte, musste Gabi von der Psychiatrie vor Gericht und von dort zurück in die Psychiatrie. Und Martha war es recht, denn käme Gabi frei, dann bliebe sie die Protest-Lesbe und ungebärdige Tochter, die niemals mehr in den Schoß der Familie zurückkehrte. Das Einzige, was Martha im Moment noch mehr störte, war, dass das Plädoyer auf Schuldunfähigkeit den Verdacht der sexuellen Misshandlung durch den Vater auf den Richtertisch brachte. Weil sie das vermeiden wollte, hatte ich Martha seit ein paar Tagen bei meiner Suche nach der Schuld Uwes auf meiner Seite. Warum aber hatte Marie im letzten Moment alles storniert? Aus Angst vor Louise? Eines war doch klar: Den Kommentar hatte Marie geschrieben, nicht Louise. Ungelesen gab Marie keine Zeile an Martha zum Abtippen.
    Ich schrieb auf ein Blatt: »Notfall. Bitte ruf mich an. Lisa.«
    Dann wartete ich, bis Martha mal aufs Klo musste, und faxte die Zeile an die Nummer von Louises Monrepos. Die Bestätigung mit dem OK zerriss ich in winzige Schnipsel. Natürlich war ich sicher, dass Louise nicht anrufen würde. Aber ich wollte nicht sicher sein.
    Marie ging gegen fünf mit einem Packen Papier, den sie zu Hause bearbeiten wollte. Martha warf mich um halb sechs raus. Sie ließ nicht gern jemanden allein in der Redaktion zurück.
    Ich fuhr mit der Straßenbahn heim. In jedem Zug saß immer jemand, bei dem die Musik in Kopfhörern klirrte. Es gab die dicke Dame mit Goldringen an jedem Finger und eine milchweißjunge Frau, die in den Mantel gekuschelt gegen die dunkle Fensterscheibe starrte. Ein dicker Mann glotzte sie an. Ein Rentner im grauen Blouson versuchte, niemanden anzusehen. Ein paar Frauen redeten kroatisch. Ein

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