Vergeltung am Degerloch
Spiegel, Stuhl und Bett. Unter der Bettdecke wölbte sich Louises aufgedunsener Leib. Eine Waschfrauenhand von graugrüner bis schwärzlicher Farbe hing über die Bettkante. In der Armbeuge war das Netzwerk der Venen bereits gut sichtbar. Am Hals schlug die Haut mit Fäulnisflüssigkeit gefüllte Blasen. Der Rand eines Hemdes schnitt ins Fleisch. Das Gesicht war aufgedunsen, die Zunge war vorgetrieben, die Augenlider waren geschwollen, der Spalt zwischen den Lidern war weiß. Das spärliche braune Haupthaar wirkte gerupft. Die Fasern des Kopfkissens waren grünschwarz verfärbt.
Auf dem Nachttisch lagen ausgedrückte Tablettenstreifen. Ein Glas mit einem eingetrockneten mehligen Rest stand daneben. Der Elektrowecker ging viereinhalb Stunden nach. Es gab keinen Abschiedsbrief.
Ich dachte zuerst an den Nachruf. Wer sollte den schreiben? Die Fernsehanstalten würden hastig die Archive plündern. Hunderte von Journalisten würden sich an die Nachrufe machen. In der Tagesschau würde ihr Foto neben dem Sprecher auftauchen. Todesursache ungeklärt, vermutlich Selbstmord. Dann Louises Leben von der ersten Stunde an. Danzig 1948. Vertreibung. Studium. Studentenbewegung. Der Kampf gegen den Paragraphen 218. Die Emanze in frühen Talkrunden. Louises rhetorische Schärfe. Später die große Dame des Feminismus.
Wie lange lag sie hier wohl schon? Und warum hatte sie sich nicht auf ihrem Monrepos umgebracht?
Ich rief von ihrem Apparat aus die Landespolizeidirektion an und ließ mich überrumpeln, meinen Namen zu sagen. Dann Marie, aber sie war nicht zu Hause. Martha wollte ich schonen. Ich verließ die Wohnung, ehe die Polizei kam, stieg die gebohnerten Stufen hinab und trat auf die Straße. Die Luft roch nach Tiefdruck, nach Kohle und Ostwind. Der Lärm von der Uferschnellstraße stand riesig am orangeroten Himmel. Es hatte aufgehört zu schneien. Halb neun. Die Straßenbahn war innen viel zu hell und leer. Vorne saß ein Mann, der mit dem Schlaf kämpfte. Eine junge Frau lauschte dem Geflirr in ihren Ohrstöpseln. Ein bärtiger Typ las. Gegen die schwarzen Wände des Weinsteigentunnels sah ich mein madiges Gesicht.
Die U-Bahn-Haltestelle Degerloch war hell erleuchtet. Die Linie 6 fuhr Richtung Möhringen fort. Ich las den Schriftzug »Albplatz«. Wie immer zur Unzeit, gab mein Hirn ein Bild frei: »Alb 17.28 L6 25.8.« Das hatte Uwe in sein Notizbuch geschrieben. Ich schaute auf den Fahrplan der Linie sechs. 17 Uhr 28 traf jeden Wochentag eine Straßenbahn aus der Stadt kommend hier ein. 17 Uhr 34 kam die nächste. Eines von Uwes potenziellen Opfern war hier ausgestiegen. Am folgenden Tag hatte er sie beobachtet, wie sie bei Laukin Dessous kaufte.
Im Aufgang zum Berolinagebäude rekelten sich die quietschbunten Plastiken von Wolfgang Thiel leicht geschürzt ins Glasdach der U-Bahn-Haltestelle. Kitzlige Achselhöhlen, kleine Brustknospen, rosige Haut und getupfte Kleidchen. Der Bildhauer formte nur Frauen, genauer Mädchen, eigentlich Schülerinnen in ihrem reizend unbefangenen Flirt mit ihm, dem Künstler, und der ganzen Welt. Seit Jahren bestückte er damit öffentliche Plätze in Stuttgart und Umgebung.
Die Ladenstraße von Degerloch war menschenleer. Ein einsames Auto dampfte an der Ampel. Ich bog in die Felix-Dahn-Straße. Das Ärztehaus wirkte dunkel und verlassen. Ich klingelte bei Kraus. Keine Antwort.
Wohin jetzt?
Es gab jede Menge Bürgerhäuser in den Heinbuchen-, Silberpappel-, Erlen-, Himbeer- und Erdbeerwegen, über die der blitzende Fernsehturm wachte. Von hier kamen die Jil-Sander- und Dior-Damen, die am Albplatz beim Böhm Lachs und Trüffel kauften (auch dieser Feinkostladen ist mittlerwei le der Depression zum Opfer gefallen). Sie saßen in ihren Wohnzimmern, schichteten Gutsles - wie man hier die Weih nachtsplätzchen nannte – in Dosen, legten Apfelscheiben da zu. Bald flimmerte die Nachricht von Louises Tod auch in ihre Räume. Aber sie dachten vermutlich nur darüber nach, ob die Kinder wohl zu Weihnachten kommen würden und ob sie nicht wieder zu viele Geschenke für die Enkel gekauft hatten. Man konnte ihnen daraus keinen Vorwurf machen.
Ich schlitterte auf dem glatten Fußweg in den verwinkelten Altstadtkern. Der Schnee, der sich unten am Neckar nur kurz hatte halten können, war hier oben liegen geblieben. In der Löwenstraße kam mir ein Mann in einem schwarzen Mantel entgegen. Alles, was hier männlich und zu Fuß unterwegs war, konnte nur aus einer Kneipe kommen. Ich wechselte die
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