Vergeltung am Degerloch
vorgeschobenen Betonbastionen sah ich warme Geschäftigkeit in den Schneideräumen. Ich bog in die Wilhelm-Camerer-Straße ein. Die Funkpforte lag still hinter der Schranke im Laternenlicht. Ich stieg in den Park der Villa Berg. Die Wiese war zu harten Knubbeln gefroren. In den Halmen fingen sich die Schneenadeln. Meine Füße hinterließen breite schwarze Flecken. Unter den Bäumen war es finster. Ich hielt Ausschau nach einem Vergewaltiger, den ich zusammenschlagen konnte. Dann war der Park auch schon wieder zu Ende. Ich kam bei der Frauenklinik raus (die inzwischen weggesprengt ist). Ein junger Mann eilte mit Blumen die Straße herab. Ich ging entgegengesetzt die Obere Straße hinauf. Im Mühlkanal zwischen Park, Autobahn nach Esslingen und Neckar lag Louises Stadtwohnung.
Wir waren alle schon mal dort gewesen, um die halb privaten Team-Tage zur Neustrukturierung der Amazone abzufeiern. Louise hatte, jeden Handgriff überlegend wie ein Mann, Kaffee und Kuchen vom Konditor hingestellt. Martha konnte es nicht mitansehen und übernahm dann Küche und Bewirtung. Dann hatten wir – das heißt, Louise – viele Seiten Papier mit Vorschlägen, Ideen und Plänen gefüllt, von denen nachher nichts verwirklicht wurde. Louise ging auf in Aufbrüchen.
Wenn sie uns zusammentrieb, standen wir stets an vorderster Front. Alle wichtigen Diskurse fanden bei uns statt. Wir bildeten die Meinung, Louise immer vorneweg, mit ihrem schlampigen Ideenreichtum, ihrer chaotischen Wichtigkeit und der Erfahrung der altgedienten Straßenkämpferin und Emanze.
Ich schaute zu ihrer Wohnung hinauf. Zweiter Stock rechts. Dort brannte Licht. Ach, tatsächlich? Ich zählte die Stockwerke nach. Unwiderruflich, es brannte Licht hinter einem kleinen Fenster. Also war Louise doch daheim. Wie gut, dass wir keine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten. Alles in Butter. Das enttäuschend heimatliche Gefühl von Abhängigkeit stellte sich ein. Unsere Zeit der Freiheit war zu Ende.
Ich klingelte bei Peters und lehnte mich gegen die Haustür aus schwächlichem Holz und zersprungenem Riffelglas. Sie gab nach. Im Treppenhaus roch es nach kleinen Kindern, Kellerkartoffeln, Weihnachtsgebäck und Bohnerwachs. Mir wurde grundlos flau. Eigentlich erwartete ich, Louise mit lautem Hallo und »Du, ich hab jetzt gar keine Zeit. Wir sehen uns am Montag in der Redaktion« auf dem Treppenabsatz stehen zu sehen. Aber die Wohnungstür war zu. Ein Messingschild mit dem Schriftzug Peters funkelte an der Holztür. Die Weihnachtsgebäckschwaden hatten einen verbrannten Unterton und – aus meinem Schädel nicht zu vertreiben – einen Leichengeruch. Ich überlegte, ob ich gleich ins Treppenhaus kotzen sollte.
Dann nahm ich doch den Japanspachtel, den ich aus sinnlosen Gründen im Portemonnaie stecken hatte – ein biegsamer Federbandstahlstreifen –, und schob ihn in die Türfalle. Es war eine alte Tür. Louise hätte schon den Schlüssel im Schloss herumgedreht haben müssen, damit ich nicht hineinkam. Der Flur war dunkel. Ich schmeckte, wie man in Schwaben sagte, den Eigengeruch, den jede Wohnung hatte. Von den Mänteln und Jacken an der Garderobe kam ein leichter Schweißgeruch, getragen von den Düften des Deos, das Loui se benutzte. Doch die Basis aller Gerüche war Leere, Einsamkeit, Stille und Vergänglichkeit. Unter einer Türritze quoll Licht hervor. Dahinter war das Klo. Also hatte Louise nur vergessen, das Licht auszumachen, als sie vor Wochen wegfuhr.
Im Wohnzimmer erstrahlte der Kronleuchter. Louises Einrichtung bestand aus einer nostalgischen Anhäufung alter Möbel und Teppiche, kombiniert mit nützlicher Ausstattung. Ein orientalischer Diwan in Grün, ein rothölzernes Erbstück von Tisch, ein Gesundheitssessel mit Leselampe, Bücherrega le, glänzendes Parkett, Fernseher, Videorekorder, Musikanlage. Louise hatte vier Zimmer zur Verfügung. Früher hatte sie hier auch Gäste beherbergt, die aus der Sowjetunion, aus Ungarn, dem Iran oder den USA auf Vortragsreisen durch Stuttgart kamen. Jetzt brachte sie Gäste der Amazone in Hotels unter. Zutritt hatten hier nur noch die Amazonen und vielleicht ein paar Geliebte, die grundsätzlich nicht nach Monrepos durften.
Der Adrenalinkick, in einer fremden Wohnung zu stöbern, hatte sich bei mir immer noch nicht eingestellt. Wahrscheinlich war der Calvados schuld, der mein Gefühlsleben lähmte. Ich beschaute die Küche, das Esszimmer, das Gästezimmer und kam ins Schlafzimmer.
Der Deckenstrahler entwarf Schrank,
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