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Vergeltung am Degerloch

Vergeltung am Degerloch

Titel: Vergeltung am Degerloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Sally gestern Abend im Tauben Spitz Bescheid gesagt. Deshalb also habe sie mich telefonisch nicht erreicht. Dabei hatte sie sich echt Sorgen gemacht, nachdem ich Samstagnacht nicht wie versprochen um Mitternacht an der Pforte des SDR gewesen war, um sie abzuholen.
    Mich kniff das schlechte Gewissen. Den Termin hatte ich über gewissen Spielchen ganz vergessen gehabt. So viel zur Freundschaft unter Freundinnen, wenn ein Mann dazwischenkam. Dabei schuldete ich Sally mehr als nur mein Leben. Sie hatte mich nach der Katastrophe mit Todt Gallions Tod aufgepäppelt. Und sie wusste, dass ich, wenn ich in einem Krankenhausbett lag, an nichts anderes dachte als daran, dass sie mich damals in den kritischen Wochen im Unklaren darüber gelassen hatten, ob Todt noch auf der Männerstation lag oder schon unter der Erde. Obgleich Sally meine Harakiri-Mentalität kannte, kam ihr nicht der Verdacht, dass ich versucht haben könnte, mich zu vergiften.
    »Dir hat jemand was in den Kaffee getan«, sagte sie. »Das steht fest. Aber Barbiturate in tödlicher Menge, das merkt man. Das Zeug ist bitter.«
    In dem Moment, da Sally unbefangen an der Mordtheorie sponn, packten mich Skrupel. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Marie mir einfach so den Schierlingsbecher hinstellte.
    »Oder war dir in letzter Zeit öfter mal schlecht?«, erkundigte sich Sally, ganz Sprechstundenhilfe. »Das könnte auch was Ernstes sein.«
    Ich erinnerte mich dunkel, dass mir im Lauf der letzten Woche schon einmal schweißtreibend schwindlig gewesen war. Wann war das nur gewesen? Ein Teller Schokoladenplätzchen baute sich vor meinem inneren Auge auf. Eine Zeit lang war es Mode gewesen, Pralinen mit E 605 zu spritzen. Aber Schokoladenplätzchen mit Barbituraten mischen? Wahrscheinlich zerfiel der Stoff beim Backen.
    »Nein«, log ich. Womöglich war es ja doch was Ernstes.
    Dienstagmittag nabelte man mich von den Infusionsschläuchen ab und Martha kam. Krankenhausvisiten heiterten selten den Besucher auf, öfter schon den Besuchten. Aber zuweilen kamen dem Kranken andere Aufgaben zu.
    Zum ersten Mal fiel mir auf, wie ähnlich Martha und Gabi sich sahen. Beide hatten sie diese eigenartig harten schwarzen Knopfaugen mit dem Rotstich, wenn sie weinten, das etwas aufgequollene Gesicht mit den breiten Backenknochen und diesen Mangel an Charme, den Gabi trotzig zelebriert hatte und Martha mit Fürsorglichkeit zu überspielen suchte. Sie hatte sicherlich nicht vorgehabt, mir ihr ganzes Unglück aufzubürden. Ein Teller bunter Gutsles duftete auf meinem Nachttisch.
    »Werden Sie nur schnell wieder gesund«, sagte sie. »Wir haben alle einen Mordsschreck gekriegt. Wenn Ihr Herr Kraus nicht gewesen wäre … Er hat scheint’s sofort den Notarzt verständigt. Als er selbst in der Redaktion ankam, waren Sie schon mit Blaulicht fort.«
    Dann brach sie in Tränen aus. »Das habe ich doch nicht gewollt! Das habe ich alles nicht gewollt.«
    »Was haben Sie denn gewollt?« Ich schob die Frage auf Samtkissen zu ihr hinüber. Aber es traf sie noch hart genug.
    »Sie halten mich auch für eine Rabenmutter. Ich weiß. Nur weil ich zu Gabi gesagt habe, diese Hede kommt mir nicht ins Haus. Nicht unter meinem Dach. Ich wollte ja nur, dass sie glücklich wird. Ich hab immer gewusst, dass sie Hilfe braucht. Aber ich konnte ihr doch nicht helfen.«
    »Wahrscheinlich konnte ihr niemand mehr helfen.«
    »Aber Sie haben es wenigstens versucht. Ich hab’s nicht mal versucht. Jetzt ist sie ja in Behandlung, hab ich gedacht. Jetzt kommt alles in Ordnung. Sie hat immer behauptet, ihr Vater habe sie … nun ja, Sie wissen schon. Und dann behauptet sie, dass sie diesen jungen Mann getötet hat. Ich verstehe das nicht. Ich verstehe es nicht. Dieser Hass. Wo hat sie ihn nur her? Wir haben ihr doch nie ein Leid getan.«
    Sollte ich ihr sagen, dass Unverständnis und Misstrauen manchmal genauso schmerzten wie Schläge und Misshandlungen? Aus Gabis grobschlächtigem Äußeren konnte man nicht schließen, dass sie nicht übertrieben sensibel gewesen war. Vielleicht hatte sie die Unerklärbarkeit ihres Leidens an der Verschlossenheit ihrer Eltern in Phantasien körperlicher Misshandlungen übersetzt. Vielleicht aber war sie tatsächlich gequält worden. Wir werden es nie erfahren.
    Den Hinterbliebenen nichts Schlechtes. Ich schwieg.
    Martha schob den Teller Plätzchen in meine Richtung. »Aber nehmen Sie doch. Essen Sie, damit Sie wieder zu Kräften kommen. Sind alles beste Zutaten. Butter. Mandeln.

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