Vergeltung am Degerloch
gelitten. Ein allgemein schlechter Gesundheitszustand, über den die Staatsanwältin in Rücksicht auf den Persönlichkeitsschutz nicht mehr sagen wollte, in Verbindung mit der von der Staatsanwältin als äußerst prekär bezeichneten finanziellen Situation ließen es nach der allgemeinen Lebenserfahrung wahrscheinlich erscheinen, dass die Verstorbene keinen Ausweg mehr gesehen habe und aus freiem Willen aus dem Leben geschieden sein könnte, wie es ja auch offenbar geschehen sei.
»Vom postmortalen Klugscheißer –«
»Bitte was?«
»Dem Polizeiarzt«, sagte Krk. »Von ihm weiß ich, dass Louise an einer Degeneration des rechten Frontallappens litt. Das ist eine Hirnerkrankung, die man Morbus Pick nennt. Ursache unbekannt. Die Leute ändern ihren Charakter – die so was haben –, sagt der Arzt. Vor allem die anerzogenen Überzeugungen gehen ihnen verloren.«
Es schüttelte mich, aber es erklärte vieles. »Unter uns«, sagte ich. »Louise wurde ermordet.«
Krk lächelte nachsichtig. »Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest. Aber es spricht mehr für Freitod. Die voll ständige Charakterkehrtwende bei Morbus Pick stört die Leu te zwar selbst meistens nicht, aber rational dürfte Louise durchaus kapiert haben, was sie hatte. Sie war ja nicht blöd. Außerdem hat sie eure Zeitung völlig in den Ruin gewirtschaftet. Die Bombe wäre spätestens im Januar geplatzt, wenn der Weihnachtsfrieden des Finanzamtes endet.«
Dass er mir nicht glaubte, war mir auch recht. »Und was ist mit Gabi?«, erkundigte ich mich. »Ich erinnere mich dunkel, dass man sie erfroren im Silberwald gefunden hat. Wie kam sie dahin?«
»So ganz klar ist das noch nicht. Klar ist nur, dass der Richter am vergangenen Freitag den Haftbefehl außer Vollzug gesetzt hat. Der Sachverhalt hat sich anscheinend verändert. Gabi soll eine Aussage gemacht haben, über die mir mein Informant bei der Polizei keine Auskunft geben wollte. Jedenfalls scheint sie damit nur noch Zeugin gewesen zu sein.«
»Steht eine Verhaftung bevor?«
Krk zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Gabi hat jedenfalls die psychiatrische Abteilung des Bürgerhospitals Samstagvormittag verlassen. Im Moment weiß die Polizei noch nicht, wo sie von dort aus hingegangen ist. Schenkt man den Aussagen ihrer Eltern und ihrer Freundin Hede Glauben, dann ist sie bei ihnen nicht aufgetaucht.«
»Aber was hat sie im Silberwald gesucht? Vom Krankenhaus aus muss sie durch die ganze Stadt gefahren sein, nur um auf den Höhen unter dem Fernsehturm zu sterben. Warum gerade dort? Hat sie sich umgebracht?«
»Das ist nicht ganz klar. Der Hund eines Spaziergängers hat sie im Unterholz etwa zehn Meter von einem der Hauptwege entfernt aufgestöbert. Sie lag auf dem Rücken.«
»Vielleicht ist sie gestolpert und hat sich den Fuß verknackst, so dass sie nicht mehr aufstehen konnte.«
»Dann hätte sie doch wohl noch um Hilfe rufen können. Außerdem hat man keine derartige Verletzung bei ihr gefunden. Man fand auch keine Spuren einer anderen Person. Allerdings ist der Boden gefroren.«
»Wenn sie direkt aus der Psychiatrie kam«, sagte ich, »dann stand sie vielleicht noch unter Drogen. Vielleicht ein Kreislaufkollaps. Aber was wollte sie im Silberwald?«
»Die Freiheit genießen«, sagte Krk.
Ich grübelte dem Wort Silberwald hinterher. In Stuttgart hießen die Wälder Bannwald, Malmstall, Maierwald, Tauschwald, Weißtannenwald, Schützenwiesenwald, Talwald, Kräherwald, Augenwald oder Haselwäldle. Sie erinnerten an mittelalterliche Sitten und Ängste. Silberwald klang nach Spinnweben, Feenzauber und Erlösung. Vielleicht hatte es Gabi darum dorthin gezogen. Doch mir kam es vor, als enthalte der Name für mich ein besonderes Signal. Silber! Da hatte es einst eine Sophie Silber gegeben, erfunden von der österreichischen Autorin Barbara Frischmuth. Wahrscheinlich fiel es mir deshalb ein, weil sich um diese Figur eine Feengeschichte rankte. Nebenbei hatten Frischmuths Figuren eine Vorliebe für weißhaarige Männer. Ich betrachtete Krks graues zerrauftes Haupthaar. Auch er war älter als ich. War nun die Vorliebe älterer Männer für junge Frauen da gewesen, bevor junge Frauen die Liebe zu älteren Männern entdeckten, oder umgekehrt? »Kennst du eigentlich Hede?«, fragte ich.
Krk schmunzelte und rieb sich das unrasierte Kinn. »Die Sappho von Stuttgart?«
Konnte es sein, dass auch er …? Hatte sie ihm den Weg zu optimaler Lust beschert? Er hatte von Professionellen
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