Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?«
»Wahrscheinlich könnt ihr nicht einfach mal ein Auge zudrücken?«, fragt Simon. »Um der alten Zeiten willen?«
Niemand antwortet.
»Wie vielen von euch hab ich das Leben gerettet?!«, schreit Simon. »Wie viele von euch wären längst tot, wäre ich nicht gewesen?«
Seine Stimme hallt durch den Wald.
»Fickt euch«, nuschelt Simon. »Macht schon, los. Aber versaut es nicht, ja?«
Die Männer legen an.
Dave will sich einreden, dass es nichts anderes ist, als einen SCUD-Schützen aus großer Entfernung auszuschalten, nicht anders, als einen Führer der al-Qaida vor einem F-16-Angriff zu »markieren«. Auch das sind Hinrichtungen. Aber natürlich ist diese hier anders. Er zielt auf Simons Brust – denkt: Du hast mit diesem Mann trainiert, hast neben ihm gekämpft, im Sand gekniet, als er verzweifelt versuchte, einem Kameraden das Leben zu retten. Hast ihn weinen sehen, als es ihm nicht gelang. Aber er hat Miriam verraten, sagt er sich. Er das Team und die Mission verraten. Seinetwegen sterben möglicherweise noch viele weitere Menschen.
»Feuer!«
Schüsse zerreißen die kalte Winterluft.
Simon sackt zusammen.
Sie gehen schweigend zurück.
Zu hören ist nur der Wind.
Die Männer halten die Köpfe gesenkt, das Kinn auf die Brust gepresst, als müssten sie darauf achten, wohin sie ihre Füße setzen. Kurz vor dem Camp holt Lev Amir ein und läuft neben ihm weiter. Amir beachtet ihn nicht. Nach ein paar Minuten sagt Lev: »Ich muss mich bei dir entschuldigen.«
Amir antwortet nicht.
Wissen, dass man sich entschuldigen muss, und es tatsächlich tun, sind zwei verschiedene Paar Schuhe.
»Ich habe dich zu Unrecht verdächtigt«, sagt Lev. »Ich habe mich geirrt.«
»Du kapierst es nicht, oder?«, fragt Amir. »Es geht nicht darum, dass du mich verdächtigt hast, sondern warum du’s getan hast.«
Doch, Lev kann ihn verstehen. Zwischen ihnen liegen tausend Jahre Misstrauen. Misstrauen, Hass und Mord. Jeder Israeli kennt mindestens eine Person, die von einem Palästinenser getötet wurde, jeder Palästinenser mindestens einen anderen, der durch einen Israeli starb.
»Es tut mir leid«, sagt Lev.
Amir antwortet immer noch nicht. Ein paar Schritte weiter sagt er: »Ich war nicht feige. Ich habe die Bombe nicht gezündet, weil es Kinder waren.«
Sie gehen den Hang hinunter.
Die Schaufel scharrt in der felsigen Erde.
Dave hilft mit einem Fußtritt nach, stemmt sich mit seinem Gewicht darauf, und der Boden gibt nach.
Er, Michel und Ulrich haben sich freiwillig als Bestattungskommando gemeldet. Sie graben im vereisten Boden, bis einetiefe Grube entstanden ist. Dann wickeln sie Simons Leichnam in eine Decke und senken ihn ab, schaufeln anschließend Erde drauf.
»Hier in den Bergen gibt es noch Wölfe«, sagt Ulrich. Sie suchen ein paar Steine und legen sie aufs Grab, damit die Wölfe den Kadaver nicht ausbuddeln.
»Wollen wir ein Kreuz aufstellen?«, fragt Michel.
»Ich glaube nicht, dass er gläubig war«, erwidert Ulrich.
Trotzdem haben sie das Gefühl, dass jemand etwas sagen sollte, aber Dave fällt nichts ein.
Ulrich überrascht ihn.
»Gott«, sagt Ulrich plötzlich, »wir wissen nicht immer, was einen Mann bewegt. Was ihn dazu bringt, seine Freunde und seine Überzeugungen zu verraten. Wir wissen nicht, wie es passieren kann, dass ein Mensch den Glauben verliert. Wir bitten dich darum, uns unseren Glauben zu erhalten. Gott, bitte nimm die Seele unseres Kameraden Simon an und bewahre sie vor weiterem Leid.«
»Amen«, sagt Michel.
»Amen«, sagt Dave.
✦
Aziz blickt durch die Doppelglasscheibe der Sicherheitswerkbank Klasse III.
In dem gasundurchlässigen Behälter mit HEPA-Schwebstofffilter befindet sich eine Probe Botulinumtoxin in Form eines gefriergetrockneten weißen Pulvers. Aziz sieht zu, wie der Biochemiker – ein von der National University of Science and Technology in Pakistan abgeworbener Professor – unterZuhilfenahme der fest eingebauten Nitrilhandschuhe einen Tropfen Flüssigkeit aus einer Pipette auf die Petrischale mit dem Gift tropft.
Eine kleine Dampfwolke steigt auf.
»Die Sicherheitsmaßnahmen, die wir normalerweise im Umgang mit BoNT ergreifen«, führt der Professor aus, »dienen dazu, genau dies zu vermeiden: dass sich das Pulver in ein Aerosol verwandelt.«
Als Pulver, erklärt er, ist BoNT relativ harmlos – schließlich handelt es sich im Prinzip um genau dieselbe Substanz, die sich eitle Frauen und Männer im
Weitere Kostenlose Bücher