Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
abgedreht.
Trotzdem erinnert sich Amir an seine Kindheit als eine größtenteils glückliche. Sie waren arm, aber das waren diemeisten, und er kannte es gar nicht anders. Sein Vater hatte einen kleinen Laden und konnte die Familie von den Einkünften ernähren. Zu den Gerüchen, an die sich Amir erinnert, gehört auch der berauschende Duft von Zimt im fateeh ghazzawhiyeh – ein in Hühnerbrühe gegartes Reisgericht, das auf warmem farasheesh- Brot serviert wird . Bei besonderen Anlässen gab es Lamm, und an Feiertagen konnte Amir es kaum abwarten, bis der Mouhalabieh auf den Tisch kam – Milchpudding.
Wie die meisten Jungs spielte er auf der Straße – am liebsten Fußball, aber auch Verstecken oder »Erobere die Fahne«. Er sah raubkopierte amerikanische Videos, liebte Mel Gibson und Indiana Jones. Er betete täglich, ging freitags mit seinem Vater und seinem Bruder in die Moschee und besuchte eine von der UN geführte Schule, die ihm nicht besonders gefiel.
Mit dreizehn endete seine Kindheit.
Es geschah am Abend des 6. Dezember 2002.
Amir war draußen und spielte noch Fußball, obwohl ihn seine Mutter längst gerufen hatte. Erst als sie die Panzer hörten, brachen sie das Spiel ab.
Kinder in Bureij wissen, wie so was klingt.
Sie kennen auch das unverwechselbare Surren von Rotorblättern.
Auf einmal fiel das grelle weiße Licht der Helikopter ins Camp und blendete Amir. Seine Mutter rief ihn erneut, dann knatterten die Maschinengewehre, er lief los, vom Himmel regneten Kugeln, sie flogen ihm um die Ohren, und er rannte so schnell er konnte, hatte es fast geschafft, als er seine Mutter auf dem Boden liegen sah und seinen Vater kauernd daneben, er hielt sie in seinen Armen und brüllte in den Nachthimmel.
Amir roch nie wieder fateeh , nur noch in seiner Erinnerung, nur noch in seinen Träumen.
Am nächsten Tag legte er das grüne Stirnband der Qassam-Brigaden an.
Sie brachten ihm bei, mit Händen und Füßen zu kämpfen. Molotowcocktails zu bauen. Mit Pistolen und Kalaschnikows zu schießen.
Und er kämpfte.
Als die Zionisten 2006 in Gaza einfielen und auch 2008. Er kämpfte und rannte und kämpfte und überlebte – gegen zionistische Kommandos, zionistische Panzer, Helikopter und Raketen.
Er war achtzehn, als er aufgefordert wurde, Selbstmordattentäter zu werden.
Etwas anderes als Tod und Krieg kannte er nicht. Ohne seine Mutter musste die Familie ums Überleben kämpfen, und die Saudis boten Märtyrerfamilien riesige Belohnungen an.
Amir sagte ja.
Drei Monate lang studierte er den Koran, völlig isoliert in einer kleinen Wohnung ohne Fernseher und ohne Radio, er sprach mit Imamen, die ihm erzählten, durch sein Opfer werde er ein von Gott Begünstigter. Aber eigentlich hatte er weder Gott noch das Anliegen der Palästinenser im Sinn.
Er dachte an Rache.
Gegen Ende seiner Ausbildung unterschrieb er einen Vertrag, versprach, seine Mission zu erfüllen. Dann setzten sie ihm eine Videokamera vor die Nase, und er blickte in die Linse und gab ein letztes Statement ab. Sofern er sich noch richtig erinnern kann, zitierte er Koranverse und schwafelte etwas von Rückgewinnung des heiligen Landes.
Dann feierte er eine Abschiedsparty mit seiner Familie.
Sein Vater nahm ihn in den Arm und erklärte ihm, dass er stolz auf ihn sei.
Es gab mouhalabieh .
In der Nacht überquerte er die Grenze. Am nächsten Tag band ihm ein älterer Genosse eine Bombe um den Bauch. Amir ging zur Bushaltestelle und wartete auf den mit zionistischen Teenagern auf dem Nachhauseweg von der Schule vollbesetzten Bus und stieg ein.
Er sagte ein Gebet, griff unter sein Hemd, um die Bombe zu zünden.
Und konnte es nicht tun.
Da war etwas in ihren Gesichtern.
Ihrem Gelächter.
Oder vielleicht, denkt er jetzt, war ich auch bloß feige.
Die israelische Polizei sah ihn dort stehen, verwirrt, mit der Hand unter dem Hemd. Sie umstellten ihn, warfen ihn zu Boden und fixierten ihn. Amir weinte.
Die Shin Bet holte ihn ab. Sie steckten ihn in eine Zelle und schlugen ihn mit Pistolengriffen, packten ihn am Hals, schüttelten ihn, bis er glaubte, sein Kopf würde explodieren.
Er sagte nichts.
Ein zionistisches Gericht verurteilte ihn zu fünfzehn Jahren.
Gemeinsam mit hunderten anderen palästinensischen Freiheitskämpfern saß er im Hochsicherheitsgefängnis von Be’er Sheva. Die vier anderen Häftlinge in seiner Zelle mieden ihn.
Er hatte seinen Schwur gebrochen.
Seine Bewegung, sein Volk, seine Familie und seinen Gott
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