Vergeltung
»Daran habe ich nicht gedacht.« Er schlug den Kopf gegen Ambrose’ Schulter. »Ich nutzloser Idiot«, rief er. »Carol hab ich nichts gebracht, für mich selbst konnte ich nichts tun. Ich bin auf der ganzen Linie ein Versager.«
38
P aula hatte sich mit einem Becher Automatenkaffee zusammengekauert und zitterte immer noch, eine Nachwirkung des Schocks. Kevin saß auf dem Boden in der Ecke des Krankenhauswartezimmers, die Arme um die Knie geschlungen, und starrte unverwandt auf die rauhen Teppichfliesen. »Ich denke immer wieder, das hätte ich sein sollen«, sagte Paula mit klappernden Zähnen.
»Nein, es sollte Carol treffen«, antwortete Kevin mit leiser, heiserer Stimme. »Für sie war es gedacht. Ihre Katze, ihre Wohnung. Jacko Vance schlägt wieder zu. Mein Gott.«
»Ich weiß, dass es für Carol gedacht war. Aber ich hätte es abbekommen sollen, nicht Chris.«
»Meinst du, dann wäre sie zufriedener gewesen?«, fragte Kevin. »Sie mag euch beide. Sie macht sich was aus uns allen. Genau wie wir sie mögen. Der Einzige, den eine Schuld trifft, ist Vance.«
»Wir sagen es Carol nicht, okay?«
»Wir können ihr so etwas nicht verheimlichen. Sie wird es sowieso erfahren. Es wird überall in den Medien sein.«
»Blake hat gesagt, sie würden es vorläufig als Unfall ausgeben. Vance wird nicht erwähnt. Carol hat schon genug am Hals, damit fertig zu werden, was mit Michael und Lucy passiert ist. Sie sollte erst später davon hören.«
Kevin schaute skeptisch drein. »Ich weiß nicht …«
»Pass auf, wir werden es Tony sagen. Mal sehen, was er meint. Er kennt sie besser als wir. Er wird wissen, ob wir es ihr sagen sollten oder nicht. Okay?«
»In Ordnung«, stimmte Kevin zu.
Sie versanken wieder in ihre schmerzlichen Gedanken. Nach einer Weile sagte Kevin: »Wo, sagtest du, ist Sinead?«
»In Brüssel. Sie wird den ersten Flug nehmen, den sie kriegen kann. Es wird aber vielleicht nicht vor dem Morgen sein. Du solltest nach Haus gehen, Kevin. Einer von uns muss schlafen.«
Bevor er etwas erwidern konnte, ging die Tür auf, und ein großer Mann in OP-Kleidung kam herein. Seine Haut war hellbraun, und seine Augen sahen aus, als hätten sie noch Schrecklicheres gesehen als die beiden Polizisten. »Sie sind Christine Devines Familie?« Er klang misstrauisch.
»Sozusagen«, antwortete Kevin und rappelte sich schnell auf, um dem Arzt auf Augenhöhe zu begegnen. »Wir sind Polizisten und arbeiten in der gleichen Eliteeinheit. Wir sind wie ihre Familie.«
»Ich sollte eigentlich mit der unmittelbaren Familie oder den nächsten Angehörigen sprechen.«
»Ihre Partnerin fliegt aus Brüssel her. Wir sind an ihrer Stelle hier«, sagte Paula niedergeschlagen. »Bitte, sagen Sie uns, wie es Chris geht.«
»Ihr Zustand ist sehr ernst«, teilte der Arzt mit. »Ihr Gesicht ist mit Schwefelsäure in Kontakt gekommen. Da es eine ätzende Flüssigkeit ist, hat sie extensive Verbrennungen der Haut. Was Säureverbrennungen viel schlimmer macht als Brandwunden, ist der Grad der Austrocknung, der durch die Säure hervorgerufen wird. Ihre Kollegin hat schlimme Verbrennungen im Gesicht. Sie wird erhebliche und bleibende Vernarbungen davontragen. Und sie hat auf beiden Seiten das Augenlicht verloren.«
Paula stieß einen Schrei aus und schlug dann die Hand vor den Mund. Kevin fasste sie an der Schulter.
»Das alles ist nicht lebensbedrohlich«, fuhr der Arzt fort. »Aber sie hat tropfengroße Mengen Säure geschluckt und eingeatmet, und das ist ein viel größerer Anlass zur Sorge. Das Risiko besteht, dass sich Flüssigkeit in der Lunge sammelt. Wir werden das in den nächsten Tagen und Stunden sehr sorgfältig beobachten. Inzwischen haben wir sie in ein künstliches Koma versetzt. Das gibt ihrem Körper die Chance, mit dem Erholungsprozess zu beginnen. Und sie muss den Schmerz nicht aushalten.«
»Wie lange wird sie im Koma liegen?«, fragte Paula.
»Schwer zu sagen. Ein paar Tage mindestens. Möglicherweise länger.« Der Arzt seufzte. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Sie sollten besser nach Hause gehen und sich ausruhen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich bald etwas ändert.«
Er wandte sich zum Gehen, dann drehte er sich noch einmal um. »Bis Ihre Kollegin ein einigermaßen normales Leben führen kann, hat sie einen langen und schwierigen Weg vor sich. Dann wird sie Sie viel nötiger brauchen als jetzt.« Die Tür schloss sich hinter ihm.
»Herrgott noch mal«, sagte Kevin. »Hast du die Dokumentation über
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