Vergeltung
nächstbesten Stuhl fallen. Er versuchte, seinen Whisky zu trinken, aber das Glas klapperte gegen seine Zähne, und er stellte es wieder ab. »War es ein Einbrecher? Hat jemand versucht, ins Haus einzudringen?«
Alice Flowers übernahm wieder die Führung. »Wir glauben, dass jemand eingebrochen ist, ja. Es war vielleicht ein entflohener Häftling.«
Jane richtete sich mühsam auf und runzelte die Stirn. »Der im Fernsehen? Dieser furchtbare Kerl Vance? Der?«
»Es könnte sein«, sagte Alice. »Die Polizei untersucht noch den Tatort. Es ist noch nicht lange her. Wir werden Sie natürlich informieren.«
»Vance?« Jane warf Carol einen vorwurfsvollen Blick zu. »Du hast den Mann verhaftet. Du hast ihn ins Gefängnis gebracht. Es ist nicht nur ein zufälliger Überfall, oder? Es ist wegen dir und deinem Beruf.«
Jetzt kommt’s. Carol legte die Hand vors Gesicht, ihre Finger krallten sich in ihre Wange. »Es ist möglich«, stöhnte sie. »Vielleicht hat er mich gesucht.« Oder er wollte mir vielleicht nur das Herz herausreißen und in Stücke brechen. Jane blickte sie voller Hass an, und Carol verstand, warum. Sie hätte das Gleiche getan, wäre es möglich gewesen.
»Es ist nicht Carols Schuld, Mrs. Jordan«, sagte Alice. »Es ist die Schuld des Mannes, der Ihren Sohn und seine Partnerin angegriffen hat.«
»Sie hat recht, Jane«, sagte David mit matter, tonloser Stimme.
»Glaub mir, Mum, ich hätte alles getan, um das zu verhindern. Ich hätte mich für Michael geopfert. Das weißt du.« Carol konnte jetzt die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie rannen ihr aus den Augen, liefen übers Gesicht und tropften vom Kinn.
»Aber er ist tot.« Jane verschränkte die Arme vor der Brust und begann sich zu wiegen. »Mein wunderbarer Junge. Mein Michael. Mein lieber, lieber Junge.«
Und so ging es weiter. Kummer, Schuldzuweisungen, Tränen und Whisky wechselten sich den ganzen Abend ab. Carol kroch kurz nach drei endlich ins Bett, so müde, dass sie sich kaum noch ausziehen konnte. Alice Flowers hatte versprochen, bis zum Morgen zu bleiben, dann sollte sie von einer Kollegin abgelöst werden. Sie konnte Carols Befürchtung verstehen, dass Vance nicht bei ihrem Bruder haltmachen werde.
Carol lag steif unter der Decke eines Bettes, in dem sie nur ein halbes Dutzend Mal geschlafen hatte. Sie hatte Angst, die Augen zu schließen, weil sie sich vor den Bildern fürchtete, die ihre Psyche heraufbeschwören würde, wenn sie unachtsam war. Letzten Endes siegte die Erschöpfung, und sie sank innerhalb von Sekunden in den Schlaf.
Kurz nach acht wachte sie mit einem dumpfen Kopfschmerz und einer panischen Angst vor der Stille im Haus auf. Sie lag ein paar Minuten vollkommen bewegungslos und versuchte, sich irgendwie für den Tag zu wappnen, dann rappelte sie sich auf und setzte sich hoch. Sie saß auf der Bettkante, den Kopf in den Händen, und fragte sich, wie, in Gottes Namen, sie mit ihrem Beruf, ihrem Leben, ihren Eltern weitermachen konnte. Alice Flowers täuschte sich. Michaels Tod war ihre Schuld. Die Verantwortung lag ganz klar bei ihr. Sie hatte ihn nicht geschützt. So einfach war das.
Und da sie das wusste, glaubte sie nicht, noch weiter unter dem Dach ihrer Eltern bleiben zu können. Sie zog die Kleider von gestern wieder an und ging nach unten. Ihre Eltern waren mit Alice im Wohnzimmer. »Ich muss gehen«, sagte sie.
Jane hob kaum den Kopf. Apathisch sagte sie: »Du weißt es am besten. So ist es ja immer.«
»Kannst du nicht bleiben?«, fragte David. »Du solltest hier bei uns sein. Du solltest nicht unter fremden Leuten sein, wenn du trauerst. Und wir brauchen dich hier, deine Mum und ich.«
»Ich komme ja wieder«, sagte Carol. »Aber ich kann mich nicht ausruhen, während der Mann, der Michael umgebracht hat, noch frei ist. Die Mörder finden, das kann ich am besten. Ich kann nicht einfach hier herumsitzen, da werde ich verrückt.« Sie ging zu ihrer Mutter und umarmte sie unbeholfen. Sie roch nach Whisky und Schweiß, als sei sie eine Fremde. »Ich hab dich lieb, Mum.«
Jane seufzte. »Ich hab dich auch lieb, Carol.« Die Worte klangen, als hätte sie sie nur mühsam über die Lippen gebracht.
Carol löste sich von ihr und kauerte sich neben den Sessel ihres Vaters. »Pass auf Mum auf«, bat sie. Er nickte und klopfte ihr auf die Schulter. »Ich hab dich lieb, Dad.« Dann stand sie auf und gab Alice ein Zeichen.
Vor der Tür streckte sie den Rücken durch und schlüpfte in die vertraute Rolle von
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