Vergeltung
Collins’ näselndem Midlands-Akzent ins Gedächtnis. Das war für Vance der schwierigste Teil der Umwandlung. Er war noch nie ein besonders begabter Imitator gewesen. Denn er hatte immer gefunden, es genüge, er selbst zu sein. Aber dieses eine Mal würde er sich in der Stimme eines anderen verlieren müssen. Er würde versuchen, so wenig wie möglich zu sprechen, aber er musste darauf vorbereitet sein, eine Antwort in seiner gewöhnlichen vollen Stimme zu vermeiden. Er erinnerte sich an die Szene in Gesprengte Ketten, in der der Gefangene, den Gordon Jackson spielt, sich mit einer automatischen Antwort verrät, als er auf Englisch angesprochen wird. Vance würde es besser machen müssen. Er konnte es sich nicht leisten, sich zu entspannen, keinen Augenblick. Nicht, bis er frei und in Sicherheit war.
Es hatte Jahre gedauert, so weit zu kommen. Zunächst hatte er es schaffen müssen, überhaupt in die therapeutische Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Dann hatte er jemanden finden müssen, der ungefähr die gleiche Größe und Gestalt hatte und dem Vance etwas bieten konnte, was er dringend brauchte. Seit dem ersten Tag, an dem der unheimliche kleine Brandstifter in die Gruppentherapie gekommen war, hatte er Jason Collins im Visier. Collins war ein Auftragskrimineller, er brannte gegen Bezahlung Betriebe ab. Aber Vance brauchte keinen Psychologen, der ihm sagte, dass Collins’ Motive dunkler und tiefgründiger waren. Dass er überhaupt in der Gruppe war, bewies es.
Vance hatte sich mit Collins angefreundet, hatte erkannt, dass er litt, weil er sein Familienleben eingebüßt hatte, und begann, die Hoffnung auf gewisse Chancen zu wecken. Was Vance’ Geld alles für Collins’ drei Kinder und für seine Frau tun könnte. Lange hatte Vance das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Die entscheidende Hürde war, dass Collins sich durch Vance’ Unterstützung weitere Jahre zu seiner schon bestehenden Strafe einhandeln würde.
Doch dann wurde über Collins eine andere Art von Urteilsspruch verhängt. Leukämie. Die Variante, bei der man nur eine vierzigprozentige Chance hat, fünf Jahre nach der Diagnose noch am Leben zu sein. Und das hieß, dass er wahrscheinlich niemals eine zweite Chance bekommen würde, seinen Kindern oder seiner Frau eine Zukunft zu geben. Selbst wenn sein Strafmaß drastisch verkürzt würde, käme Collins nur nach Haus, um zu sterben. »Sie würden dich doch auf jeden Fall heimgehen lassen, wenn du so nah dran wärst am eigenen Tod«, hatte Vance ihm erklärt. »Schau mal, was mit dem Lockerbie-Bomber passiert ist.« Damit schien er auf merkwürdige, geradezu perverse Weise die Möglichkeit zu haben, alles gleichzeitig zu bekommen. Collins konnte Vance helfen zu entkommen, und es würde keine Rolle spielen; wenn er krank genug war, würde man ihn trotzdem freilassen. So oder so würde er sein Lebensende bei seiner Familie verbringen. Und wenn sie es so machten, wie Vance sich das vorstellte, würden sich seine Frau und Kinder niemals mehr um Geld Gedanken machen müssen.
Vance hatte alle Überzeugungskraft gebraucht und mehr Geduld, als er sich zugetraut hatte, um Collins von seinem Standpunkt zu überzeugen. »Das Schöne und Nette habt ihr alle aus eurem Leben verbannt«, hatte sein Psychologe einmal gesagt. Das hatte Vance einen starken Ansatzpunkt gegeben, und schließlich schaffte er es. Collins’ ältester Sohn sollte die beste Privatschule in Warwickshire besuchen, und Jacko Vance war kurz davor, das Gefängnis zu verlassen.
Vance räumte alles auf, riss das durchweichte Papier in kleine Fetzen und spülte es zusammen mit dem Haar, das er in dünne Bündel Toilettenpapier gewickelt hatte, durchs Klo hinunter. Die Plastikfolie knüllte er zu kleinen Bällchen zusammen und klemmte sie zwischen Tisch und Wand. Als es nichts mehr zu tun gab, legte er sich endlich auf das schmale Bett. Die Luft kühlte den Schweiß auf seiner Haut, er fröstelte und zog die Decke hoch.
Alles würde gutgehen. Morgen würde der Wärter kommen und Jason Collins abholen, der seinen ersten Tag Freigang bekommen sollte. Jeder Gefangene der therapeutischen Gemeinschaft träumte von diesem Resozialisierungsprogramm, von dem Augenblick, an dem er durch das Gefängnistor hinausgehen und einen Tag in einer Fabrik oder einem Büro verbringen würde. Wie verdammt armselig, dachte Vance. Die Therapie schränkte die Vorstellung eines Menschen derart ein, dass ein Tag banaler Plackerei etwas war, nach dem man sich sehnte.
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