Vergeltung
deinen Begabungen machen wollen?«
»Meine Eltern haben Verwandte, deren Leben durch die Kulturrevolution zerstört wurde. Ich weiß sehr wohl, dass Leute manchmal dafür bestraft werden, dass sie etwas zu gut können.« So offen hatte Stacey noch nie mit Kollegen gesprochen. Es war bittere Ironie, dass erst die Auflösung ihrer Abteilung ihr die Zunge löste.
»Blake ist nicht der Große Vorsitzende Mao«, antwortete Paula. »Er ist viel zu ehrgeizig, als dass er sich nicht deiner bedienen würde. Ich glaube, es ist viel wahrscheinlicher, dass er dich an eine Reihe Monitore kettet und nur einmal im Monat an die frische Luft lässt. Glaub mir, Stacey, dir wird niemand den Stecker rausziehen. Die lästige Kleinarbeit wird, wie gewöhnlich, Typen wie mir und Sam zufallen und, wo wir gerade von Sam sprechen, glaubst du nicht, dass es langsam an der Zeit ist, mit ihm zu reden?«
»Wovon sprichst du?«
»Jetzt tu bitte nicht so unschuldig, Stacey. Was Verhöre betrifft, bin ich die Beste in dieser Abteilung. Mir entgeht nichts. Geh mit ihm aus. Das Leben ist kurz. Unsere Tage als Team sind gezählt. Demnächst siehst du ihn vielleicht nur noch einmal im Monat. Sag ihm, was du empfindest.«
»Du bist verrückt, Paula«, antwortete Stacey schwach.
»Nein, bin ich nicht. Ich bin deine Freundin. Und ich hätte beinahe Elinor verpasst, weil ich nur noch für den Job gelebt habe. Dann hat sie mir eine winzige Chance gegeben, und ich habe sie ergriffen. Das hat mein Leben verändert. Du musst das auch tun, Stacey. Oder er wird verschwunden sein, und du wirst es bereuen. Er ist ein Arschloch und verdient dich nicht, aber offensichtlich ist er das, was du willst, also unternimm was.«
»Hast du nicht eine Verhaftung vorzunehmen?«, konterte Stacey, die langsam zu ihrer alten Form zurückfand.
»Danke für die Info.«
Stacey legte den Hörer auf und starrte auf den Bildschirm des Laptops. Dann erhob sie sich, ging zum Fenster hinüber und dachte über Paulas Worte nach, während sie auf den Parkplatz hinunterstarrte. Offenbar konnte man nicht alle Probleme lösen, indem man auf einen Computermonitor starrte.
Aber wer wusste das schon?
52
V anessa Hill beugte sich vor, schenkte sich ein weiteres Glas ein und setzte sich dann wieder zurecht. Sie liebte dieses Sofa mit seinen gemusterten Polstern, seinen Kissenbergen, in die man einsinken konnte, und den hohen Seitenlehnen. Wenn sie sich darauf ausstreckte, fühlte sie sich wie ein Pascha, was auch immer das genau sein mochte, oder wie ein Römer bei einem Festmahl. Sie mochte es, sich zwischen Kissen und Decken niederzulassen, leckere kleine Snacks zu genießen und guten Wein zu trinken. Sie war sich bewusst, dass ihr Privatleben bei den Angestellten ihrer Arbeitsagentur Gegenstand wildester Spekulationen war. Die Wahrheit war schlicht und ergreifend, dass sie sich mit ihrem Erfolg und ihrem Geld das Recht verschafft hatte, es sich gutgehen zu lassen. Und das hieß für sie: Zeit alleine verbringen, verdammt guter Rotwein, Satellitenfernsehen und eine umfassende DVD-Sammlung. Sie hatte nicht oft die Gelegenheit, sich auf diese Weise zu verhätscheln. Zwei Abende pro Woche, wenn es hochkam. Den Rest ihrer Zeit widmete sie dem Aufbau ihres Unternehmens. Vanessa mochte vielleicht ein Seniorenticket besitzen, doch an den Ruhestand dachte sie noch lange nicht.
Das Bild der Mad-Men -Folge wurde schwarz, und der Abspann lief über den Bildschirm. Sie überlegte, ob sie noch eine weitere Folge schauen sollte, entschloss sich dann aber für die Nachrichten, um danach wieder zur Serie zurückzukehren. Sie schaltete vom DVD-Player zum Fernsehprogramm um und landete wieder einmal in einem Bericht über Unruhen im Nahen Osten. Vanessa räusperte sich. Sie hätte dort schnell aufgeräumt. Keiner dieser Männer hatte den Mut, den Mund aufzumachen und zu sagen, was er dachte. Sie hatte geglaubt, es würde die amerikanische Außenpolitik revolutionieren, wenn Hillary Clinton sich erst mal darum kümmerte, doch größtenteils war alles beim Alten geblieben. Sogar den Nachrichtensprechern sah man an, dass es sie langsam langweilte. Der einzige Mensch, den diese Thematik regelrecht aufleben ließ, war diese furchtbare Frau von der BBC, die immer nur dann zu sehen war, wenn alles gerade völlig den Bach runterging. Vanessa verzog das Gesicht zu einem angespannten Lächeln, das genau erkennen ließ, wo das Botox injiziert worden war. Man sollte so schnell wie möglich verschwinden, wenn man
Weitere Kostenlose Bücher