Vergessene Stimmen
fragte sich, ob er sich mit dem Zeitunterschied vertan hatte. Vielleicht rief er zu früh oder zu spät an.
Nach dem sechsten Läuten schaltete sich ein Anrufbeantworter ein und erteilte Bosch auf Englisch und Kantonesisch Anweisungen, wie er eine Nachricht hinterlassen könne. Er sprach eine kurze Nachricht für Eleanor und seine Tochter auf Band und legte auf.
Weil er sich jetzt auf keinen Fall mit seiner Tochter und der Frage beschäftigen wollte, wo sie sein könnte, schlug Bosch die Mordakte auf und machte sich daran, sie noch einmal durchzugehen. Dabei hielt er vor allem Ausschau nach Einzelheiten, die er vielleicht übersehen hatte. Trotz allem, was er inzwischen über den Fall und die massive Einmischung von ganz oben wusste, glaubte er weiterhin an die Mordakte. Er glaubte, die Lösung eines Rätsels war immer in den Details zu finden.
Er las die Mordakte einmal vollständig durch und wollte sich gerade Mackeys Bewährungsberichte vornehmen, als ihm etwas einfiel. Er rief Muriel Lost an. Sie war zu Hause.
»Haben Sie den Bericht in der Zeitung gesehen?«, fragte er.
»Ja, es macht mich sehr traurig, das zu sehen.«
»Inwiefern?«
»Weil es alles erst richtig real für mich macht. Ich hatte es verdrängt.«
»Das tut mir Leid. Aber es wird uns helfen. Ganz bestimmt. Ich bin froh, dass Sie sich dazu durchringen konnten. Vielen Dank.«
»Ich werde alles tun, solange es Ihnen hilft.«
»Danke, Muriel. Hören Sie, ich wollte Ihnen noch sagen, dass ich Ihren Mann ausfindig gemacht habe. Ich habe gestern früh mit ihm gesprochen.«
Sie war lange still, bevor sie zu sprechen begann.
»Tatsächlich? Wo ist er?«
»Unten in der Fifth Street. Er leitet dort eine Suppenküche, in der für Obdachlose kostenlos Frühstück ausgegeben wird. Sie nennt sich Metro Shelter. Ich dachte, das wollten Sie vielleicht wissen.«
Wieder langes Schweigen. Bosch vermutete, sie wollte ihm verschiedene Fragen stellen, und er war bereit zu warten.
»Sie meinen, er arbeitet dort?«
»Ja. Er ist wieder trocken. Er sagt, seit drei Jahren. Ich vermute, dass er ursprünglich wegen einer kostenlosen Mahlzeit dort hinkam und sich dann hochgearbeitet hat. Im Moment leitet er die Küche. Und das Essen ist gut. Ich habe gestern dort gefrühstückt.«
»Ich verstehe.«
»Äh, ich habe eine Nummer, die er mir gegeben hat. Es ist kein Direktanschluss. Er hat kein Telefon auf dem Zimmer. Aber es ist in der Küche. Dort ist er jeden Morgen. Nach neun ist der größte Ansturm vorüber, hat er gesagt.«
»Okay.«
»Möchten Sie die Nummer haben, Muriel?«
Auf diese Frage folgte das längste Schweigen von allen. Schließlich beantwortete Bosch die Frage selbst.
»Wissen Sie was, Muriel? Ich habe die Nummer, und wenn Sie sie haben wollen, rufen Sie mich einfach an. Ist das okay so?«
»Ja, das wäre gut, Detective. Danke.«
»Keine Ursache. Ich muss jetzt Schluss machen. Wir hoffen, dass uns heute der entscheidende Durchbruch gelingt.«
»Bitte rufen Sie mich an.«
»Sie sind die Erste, die von mir hören wird.«
Nachdem er aufgelegt hatte, merkte Bosch, dass ihn die Erinnerung an das Frühstück in der Suppenküche hungrig gemacht hatte. Es war inzwischen fast Mit tag, und er hatte seit dem Steak im Musso’s am A bend zuvor nichts mehr gegessen. Er beschloss, ins Schlafzimmer zu gehen, um sich ein bisschen auszuruhen, und dann spät zu Mittag zu essen, bevor er sich zum Dienst meldete. Er wollte ins Dupar’s in Studio City gehen. Es lag auf dem Weg nach Northridge. Pfannkuchen waren das ideale Observierungsessen. Er würde sich eine ganze Ladung butterbestrichener Pfannkuchen bestellen, die ihm wie ein Stein im Magen liegen und ihn, falls nötig, die ganze Nacht sättigen würden.
Im Schlafzimmer legte er sich auf den Rücken und schloss die Augen. Er versuchte, über den Fall nachzudenken, aber seine Gedanken wanderten zu der Zeit zurück, als er sich in einem schmuddeligen Studio in Saigon am Arm hatte tätowieren lassen. Im Hinüberdämmern erinnerte er sich an den Mann mit der Nadel und an sein Lächeln und seinen Körpergeruch. Er erinnerte sich, wie der Mann gesagt hatte: »Sind Sie ganz sicher? Vergessen Sie nicht, Sie werden damit für immer gezeichnet sein.«
Bosch hatte das Lächeln erwidert und gesagt: »Das bin ich schon.«
Dann verwandelte sich das lächelnde Gesicht des Mannes in seinem Traum in das von Vicki Landreth. Sie hatte roten Lippenstift auf ihren Mund geschmiert. Sie hielt eine surrende Tätowiernadel
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