Vergessene Stimmen
einen weiteren Punkt von Interesse. Im Feld für Kommentare des zuständigen Officers hieß es, das Einbruchsopfer habe die Waffe erst vor kurzem zu seinem Schutz erworben, nachdem er aufgrund der Tatsache, dass er Jude war, mehrere anonyme Drohanrufe erhalten hatte. Das Opfer sagte aus, er wisse nicht, wie seine Geheimnummer in die Hände des Anrufers geraten sei, und er wisse auch nicht, was diesen zu den Drohungen veranlasst haben könnte.
Im Anschluss nahm sich Bosch den zweiten Bericht der Abteilung Schusswaffen vor. Darin wurde die bei der Entführung verwendete Betäubungspistole identifiziert. Dem Befund zufolge deuteten die 57 Millimeter Abstand zwischen den Kontaktpunkten, die anhand der Verbrennungen auf der Haut des Opfers ermittelt worden waren, darauf hin, dass sie nur von einem Modell mit der Bezeichnung Professional 100 stammen konnten, das von einer in Downey ansässigen Firma namens SafetyCharge hergestellt wurde. Dieses Modell war in Geschäften und über Versandfirmen erhältlich, und zum Zeitpunkt des Mordes waren über zwölftausend Stück davon in Umlauf. Wenn der Besitzer der Betäubungspistole nicht mit der bei der Tat benutzten Waffe in der Hand erwischt wurde, bestand keine Chance, die Spuren an Becky Losts Leiche mit ihm in Verbindung zu bringen. Das war eine Sackgasse.
Dann blätterte Bosch eine Reihe von 18 x 24-Fotos durch, die unmittelbar nach der Entdeckung von Beckys Leiche im Haus der Losts gemacht worden waren. Diese Aufnahmen dienten nur der Absicherung. Ursprünglich hatte die Polizei Rebecca Losts Verschwinden damit erklärt, dass das Mädchen von zu Hause ausgerissen sei. Sie ging der Sache erst richtig nach, nachdem die Leiche entdeckt und eine Autopsie zu dem Ergebnis gekommen war, dass es sich um einen Mord handelte. Fünf Tage nachdem das Mädchen als vermisst gemeldet worden war, kreuzte die Polizei wieder auf und erklärte das Haus zum Tatort. Die Frage war nun, wie viel Spuren in diesen fünf Tagen verloren gegangen waren.
Unter den Fotos waren Innen- und Außenaufnahmen aller drei Türen des Hauses – Vorder-, Hinter- und Garagentür – und mehrere Nahaufnahmen von Fensterschlössern. Es gab auch mehrere Aufnahmen von Becky Losts Zimmer. Als Erstes fiel Bosch auf, dass das Bett gemacht war. Er fragte sich, ob es der Entführer gemacht hatte, um dadurch gezielt auf einen Selbstmord hinzudeuten, oder ob es einfach Beckys Mutter an einem der Tage gemacht hatte, an denen sie noch auf die Rückkehr ihrer Tochter gehofft und gewartet hatte.
Das Bett war ein Himmelbett mit einer rosafarbenen Tagesdecke mit weißen Katzen darauf und einem passenden rosafarbenen Volant. Die Tagesdecke erinnerte Bosch an die seiner Tochter. Sie erschien ihm für eine 16-Jährige eindeutig zu kindlich, weshalb er sich fragte, ob Becky Lost sie in einer Anwandlung von Nostalgie behalten hatte oder als eine Art psychologische Schutzdecke. Der Volant lag nicht exakt auf dem Boden auf. Er war ein paar Zentimeter zu lang und entweder ein Stück nach außen oder nach innen geneigt.
Es gab Fotos von der Kommode und den Nachttischen des Mädchens. Das Zimmer war mit einer langen Reihe von Plüschtieren aus früheren Jahren geschmückt. An den Wänden hingen Poster von Musikgruppen, die längst wieder passé waren, außerdem das Plakat eines John-Travolta-Films, der mindestens drei Comebacks weit zurücklag. Das Zimmer war sehr sauber und ordentlich, und wieder fragte sich Bosch, ob das auch an dem Morgen so gewesen war, an dem Rebecca Losts Verschwinden bemerkt wurde, oder ob ihre Mutter das Zimmer in der Zeit, in der sie auf die Rückkehr ihrer Tochter wartete, aufgeräumt hatte.
Die Fotos mussten im Zuge einer ersten Tatortanalyse aufgenommen worden sein. Nirgendwo waren Spuren von Fingerabdruckpulver zu sehen oder sonstige Hinweise auf das Chaos, das mit dem Anmarsch der Spurensicherung einherging.
Auf die Fotos folgten in der Akte die Protokolle der Befragungen, die die Ermittler mit Schülern der Hillside Prep durchgeführt hatten. Einer Checkliste auf der ersten Seite zufolge hatten die Ermittler mit jedem Schüler aus Becky Losts Klasse und mit jedem Jungen der oberen Klassen gesprochen. Es gab auch Protokolle der Befragungen von Lehrern des Opfers und Angehörigen der Schulverwaltung.
In diesem Teil der Mordakte war auch das Protokoll einer telefonischen Vernehmung eines früheren Freundes von Becky Lost enthalten, der mit seinen Eltern ein Jahr vor dem Mord nach Hawaii gezogen war.
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