Vergessene Stimmen
über vierzig Jahre. Ich kann noch länger warten.«
Bosch rechnete mit mehr, aber das war’s. Irving nickte einmal und stand auf. Er drehte sich rasch um und ging aus der Cafeteria. Bosch spürte, wie ihm die Galle hochstieg. Er blickte auf die zwei Kaffeebecher in seinen Händen hinab und kam sich wie ein Vollidiot vor, weil er wie ein wehrloser Laufbursche dagesessen hatte und sich von Irving verbal hatte abwatschen lassen. Er stand auf und warf beide Becher in einen Abfalleimer. Jean Nord sollte sich ihren blöden Kaffee gefälligst selbst holen.
6
Als Bosch die zweite Hälfte der Mordakte zu seinem Schreibtisch trug und sich setzte, war sein Unbehagen über die Begegnung mit Irving noch nicht verflogen. Die beste Möglichkeit, Irvings Drohung zu vergessen, bestand vermutlich darin, sich wieder in den Fall zu vertiefen. Was er in der Mordakte noch vorfand, war ein dicker Packen ergänzender Berichte und Updates, also all die Dinge, die Ermittler immer hinten in einen Ordner packen. Bosch nannte sie gern die Puzzleteilchen, weil die einzelnen Dokumente oft zusammenhanglos erschienen, obwohl sie den entscheidenden Hinweis auf die Lösung eines Falls geben konnten, wenn man sie aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete oder in die richtige Anordnung brachte.
Zuerst kam ein Laborbefund, demzufolge mit den verfügbaren Testmethoden nicht genau festgestellt werden konnte, wie lange genau sich die Blut- und Gewebeproben, die an der Mordwaffe gefunden worden waren, dort befunden haben könnten. In dem Befund hieß es, dass zwar die meisten Proben zu Vergleichszwecken aufbewahrt worden seien, eine Untersuchung ausgesuchter Blutkörperchen aber darauf hingedeutet habe, dass der Verwesungsprozess noch nicht sehr weit fortgeschritten gewesen sei. Der Kriminologe, der den Befund schrieb, konnte nicht feststellen, ob das Blut unmittelbar zum Zeitpunkt der Tötung an die Waffe ge langt war oder schon davor – niemand konnte das. A ber er wäre bereit gewesen zu bezeugen, dass das Blut »kurz vor oder nach oder unmittelbar bei der Tötung« an die Waffe gekommen war.
Bosch wusste, dass dieser Befund bei einer Anklageerhebung gegen Roland Mackey eine Schlüsselrolle spielen würde. Unter Umständen böte er Mackey auch die Möglichkeit, zu seiner Verteidigung vorzubringen, er habe sich zwar vor dem Mord, aber nicht zum Zeitpunkt des Mordes im Besitz der Waffe befunden. Es wäre ein riskanter Schachzug, den Besitz der Mordwaffe zuzugeben, aber wegen der DNS-Übereinstimmung bliebe ihm kaum eine andere Wahl. Der Umstand, dass es technisch nicht möglich war, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem Blut und Gewebe an die Waffe gekommen waren, stellte in Boschs Augen ein erhebliches Manko für die Beweisführung der Anklage dar. Die Verteidigung konnte sich das hervorragend zunutze machen. Wieder einmal spürte er, wie seine Zuversicht wegen der DNS-Übereinstimmung verflog. Die wissenschaftlichen Methoden konnten gleichzeitig geben und nehmen. Sie brauchten mehr.
Das nächste Dokument in der Mordakte war ein Bericht der Abteilung Schusswaffen, die damit beauftragt worden war, die Herkunft der Tatwaffe festzustellen. Die Seriennummer der Selbstladepistole war zwar weggefeilt worden, aber mithilfe einer Säure, durch die diejenigen Stellen im Metall hervorgehoben wurden, an denen die Nummer bei der Herstellung eingestanzt worden war, konnte sie im Labor wieder sichtbar gemacht werden. Anhand dieser Nummer ließ sich feststellen, dass die Waffe 1987 vom Hersteller an einen Waffenladen in Northridge geliefert worden war. Dort kaufte sie dann im selben Jahr ein Mann, der in Chatsworth in der Winnetka Avenue wohnte. Am 2. Juni 1988 wurde beim Eigentümer der Waffe eingebrochen und die Waffe als gestohlen gemeldet, genau ein Monat bevor Rebecca Lost damit ermordet wurde.
Dieser Bericht würde die Beweisführung unterstützen. Wenn nämlich Mackey nicht mit dem ursprünglichen Eigentümer der Waffe bekannt gewesen war, begrenzte der Einbruch den Zeitraum, in dem sich die Waffe in Mackeys Besitz befunden hatte. Das wiederum erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass die Waffe an dem Abend, an dem Becky Lost aus ihrem Elternhaus entführt und ermordet worden war, in seinem Besitz war.
Der Einbruchsbericht befand sich in der Akte. Der Name des Bestohlenen war Sam Weiss. Er lebte allein und arbeitete bei Warner Bros. in Burbank als Tontechniker. Bei der Durchsicht des Berichts entdeckte Bosch nur noch
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