Vergessene Stimmen
flüsterte sie etwas, und Bosch dachte, es könnte ein Gebet sein. Sobald sie im Haus waren, schloss sie die Tür, allerdings nicht, ohne vorher der entwischten Katze eine Warnung hinterherzurufen.
Im Haus roch es, als würde die Katze nicht oft genug entwischen. Das Wohnzimmer, in das sie geführt wurden, war sauber und ordentlich, aber die Einrichtung war alt und abgenutzt. Es roch im ganzen Haus nach Katzenurin. Bosch wünschte sich plötzlich, sie hätten Muriel Lost zur Befragung ins Parker Center bestellt, auch wenn er wusste, dass es ein Fehler gewesen wäre. Es war wichtig, dass sie das Haus sahen.
Sie setzten sich nebeneinander auf die Couch, und Muriel Lost ging hastig zu einem der Sessel auf der anderen Seite des Couchtisches. Bosch bemerkte Pfotenabdrücke auf der Glasplatte.
»Was ist passiert?«, fragte sie angespannt. »Gibt es irgendetwas Neues?«
»Also, die Neuigkeit ist wahrscheinlich, dass wir uns wieder mit dem Fall befassen«, sagte Rider. »Ich bin Detective Rider, und das ist Detective Bosch. Wir sind von der Einheit Offen-Ungelöst im Parker Center.«
Auf der Fahrt hatten sich Bosch und Rider abgesprochen, sich gegenüber den Losts mit Informationen zurückzuhalten. Solange sie über die Familienverhältnisse nicht mehr wussten, erschien es ihnen besser, zu nehmen, als zu geben.
»Und gibt es irgendetwas Neues?«, fragte Muriel Lost aufgeregt.
»Wissen Sie, im Moment stehen wir noch ganz am Anfang«, sagte Rider. »Wir sind noch dabei, einige unklare Punkte abzuklopfen. Wir sind sozusagen noch auf der Suche nach einem Einstieg. Eigentlich sind wir nur vorbeigekommen, um Ihnen zu sagen, dass wir den Fall neu aufrollen.«
Muriel Lost wirkte ein wenig enttäuscht. Offensichtlich hatte sie gedacht, es müsse etwas Neues geben, wenn die Polizei nach so vielen Jahren wieder auftauchte. Bosch hatte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr nicht sagte, dass sie einen bombensicheren DNS-Hinweis hatten, aber vorerst hielt er es für besser so.
»Ein paar Dinge wären da allerdings schon noch.« Es war das erste Mal, dass Bosch das Wort ergriff. »Zunächst einmal sind wir bei der Durchsicht der Unterlagen auf dieses Foto gestoßen.«
Er zog das Foto des 18-jährigen Roland Mackey aus der Tasche und legte es vor Muriel Lost auf den Couchtisch. Sie beugte sich sofort vor, um es anzusehen.
»Wir sind nicht sicher, inwiefern er mit der Sache zu tun hat«, fuhr Bosch fort. »Aber wir dachten, dass Sie ihn vielleicht erkennen und uns sagen können, ob Sie ihn damals kannten.«
Ohne eine Reaktion zu zeigen, sah Muriel Lost das Foto weiter an.
»Das ist ein Foto aus dem Jahr 1988«, sagte Bosch, um ihr auf die Sprünge zu helfen.
»Wer ist das?«, fragte sie schließlich.
»Das wissen wir selber noch nicht so genau. Sein Name ist Roland Mackey. Er wurde nach dem Tod Ihrer Tochter mehrmals wegen geringfügiger Vergehen festgenommen. Wir sind nicht sicher, weshalb sein Foto in der Akte war. Kennen Sie den Mann?«
»Haben Sie Art oder Ron schon gefragt?«
Bosch wollte schon fragen, wer Art und Ron seien, doch dann kam er selber darauf.
»Detective Green ist schon vor langer Zeit in den Ruhestand gegangen und inzwischen auch verstorben. Detective Garcia ist mittlerweile Commander. Wir haben zwar mit ihm gesprochen, aber er konnte uns leider auch nicht weiterhelfen, was diesen Mackey angeht. Aber vielleicht können Sie das ja. Könnte er ein Bekannter Ihrer Tochter gewesen sein? Kennen Sie ihn?«
»Das könnte durchaus sein. Irgendetwas an ihm kommt mir jedenfalls bekannt vor.«
Bosch nickte.
»Wissen Sie, woher Sie ihn kennen?«
»Nein, ich kann mich nicht erinnern. Warum sagen Sie es mir nicht? Vielleicht hilft das ja meinem Gedächtnis auf die Sprünge.«
Bosch sah kurz zu Rider hinüber. Das kam nicht ganz unerwartet, aber es erschwerte die Sache immer, wenn ein Elternteil eines Opfers so begierig war, zu helfen, dass er oder sie die Polizei einfach fragte, was er oder sie sagen sollte. Muriel Lost hatte siebzehn Jahre darauf gewartet, dass der Mörder ihrer Tochter ins Licht der Rechtsprechung gezerrt würde. Es stand völlig außer Frage, dass sie ganz bewusst nur Antworten geben würde, die dem nicht zuwiderliefen. An diesem Punkt machte es ihr vielleicht nicht einmal mehr etwas aus, wenn dadurch ein falscher Schluss gezogen wurde. Die vergangenen Jahre waren mit ihr und der Erinnerung an ihre Tochter nicht sanft umgesprungen. Da draußen gab es jemanden, der dafür noch bezahlen
Weitere Kostenlose Bücher