Vergessene Stimmen
mit einem Bad dazwischen. Becky Losts Zimmer war das hintere.
Die Tür war zu, und Muriel Lost öffnete sie. Als sie hindurchgingen, war es, als gerieten sie in eine Zeitschleife. Das Zimmer sah noch genauso aus wie auf den siebzehn Jahre alten Fotos in der Mordakte. Der Rest des Hauses war voll mit Gerümpel und den Trümmern eines zerstörten Lebens, aber das Zimmer, in dem Becky Lost geschlafen und telefoniert und ihr geheimes Tagebuch geführt hatte, war unverändert geblieben. Es war inzwischen länger in seinem damaligen Zustand erhalten, als das Mädchen überhaupt gelebt hatte.
Bosch machte ein paar Schritte in das Zimmer hinein und sah sich wortlos um. Offensichtlich durfte hier nicht einmal die Katze hinein. Die Luft roch sauber und frisch.
»Genauso sah das Zimmer an dem Morgen aus, an dem sie verschwand«, sagte Muriel Lost. »Außer, dass ich das Bett gemacht habe.«
Bosch sah auf die Steppdecke mit dem Katzenmuster, die ein Stück über die Bettkanten fiel. Der Volant stand sauber auf dem Boden auf.
»Sie und Ihr Mann haben damals doch auf der anderen Seite des Hauses geschlafen?«, fragte Bosch.
»Ja. Rebecca war in dem Alter, in dem sie ihren eigenen Bereich haben wollte. Unten, auf der anderen Seite des Hauses, sind zwei Schlafzimmer. Ursprünglich hatte sie ihr Zimmer dort unten. Aber mit vierzehn zog sie hier hoch.«
Bosch nickte und sah sich um, bevor er weitere Fragen stellte.
»Wie oft kommen Sie hier herauf, Mrs. Lost?«, fragte Rider.
»Jeden Tag. Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann – was ziemlich oft der Fall ist –, komme ich hierher und lege mich aufs Bett. Aber nicht unter die Decke. Ich möchte, dass das ihr Bett bleibt.«
Bosch merkte, dass er wieder nickte, als ergebe das, was sie sagte, einen Sinn für ihn. Er ging zum Schminktisch. Im Rahmen des Spiegels steckten mehrere Fotos. Auf einem davon erkannte Bosch die junge Bailey Sable. Auch ein Foto von Becky vor dem Eiffelturm war darunter. Sie trug eine schwarze Baskenmütze. Keiner der anderen Jugendlichen von der Kunstclubreise war darauf zu sehen.
Auch ein Foto von Becky und einem Jungen steckte am Spiegel. Es schien von einem Ausflug nach Disneyland oder zum Santa-Monica-Pier zu stammen.
»Wer ist das?«, fragte Bosch.
Muriel Lost kam zu ihm und schaute auf das Foto.
»Der Junge? Das ist Danny Kotchof. Ihr erster Freund.«
Bosch nickte. Der Junge, der nach Hawaii gezogen war.
»Es brach ihr das Herz, als er wegzog«, fügte sie hinzu.
»Wann genau war das?«
»Im Sommer davor, im Juni. Sie hatte gerade ihr erstes Studienjahr hinter sich und er sein zweites. Er war ein Jahr älter.«
»Warum zogen seine Eltern von hier fort? Wissen Sie das?«
»Dannys Vater arbeitete für ein großes Mietwagenunternehmen und wurde in eine neue Filiale auf Maui versetzt. Es war eine Beförderung.«
Bosch warf Rider einen kurzen Blick zu, um zu sehen, ob sie die Bedeutung der Auskunft mitbekam, die ihnen Muriel Lost gerade gegeben hatte. Rider schüttelte kaum merklich einmal den Kopf. Sie hatte es nicht mitbekommen. Doch Bosch wollte diesem Punkt weiter nachgehen.
»Ging Danny auch auf die Hillside Prep?«, fragte er.
»Ja, dort haben sie sich kennen gelernt«, sagte Muriel Lost.
Bosch blickte auf den Schminktisch hinab und bemerkte eine Schneekugel mit dem Eiffelturm darin, ein Souvenir aus Paris. Ein Teil des Wassers war verdunstet, sodass sich oben in der Kuppel eine Luftblase gebildet hatte und die Turmspitze aus dem Wasser ragte.
»War Danny auch im Kunstclub?«, fragte er. »Hat er ebenfalls an der Frankreichreise teilgenommen?«
»Nein, sie waren schon vorher weggezogen«, sagte Muriel Lost. »Er zog im Juni weg, und die Frankreichreise war in der letzten Augustwoche.«
»Hat Ihre Tochter Danny danach noch einmal gesehen oder von ihm gehört?«, fragte Bosch.
»Aber sicher. Sie schrieben sich regelmäßig und telefonierten. Zunächst riefen sie sich gegenseitig an, aber dann wurde das zu teuer. Und irgendwann rief nur noch Danny an. Jeden Abend vor dem Schlafengehen. Das blieb so, bis … bis sie verschwand.«
Bosch streckte die Hand aus und nahm das Foto aus dem Spiegelrahmen. Er sah sich Danny Kotchof genau an.
»Wie war das, als Ihre Tochter verschwand? Wie hat es Danny erfahren? Wie hat er reagiert?«
»Also … wir riefen bei seinen Eltern an und sagten es seinem Vater, damit er es Danny möglichst schonend beibrächte. Sie haben uns erzählt, dass es ihn tief getroffen hätte. Aber das war ja
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