Vergessene Welt
elegant. So einzigartig. Darwin
hatte ja keine Ahnung.«
Sarah sagte zu
Thorne: »Ich werde die Wunde jetzt säubern. Halten Sie bitte das Bein fest.«
Und lauter sagte sie: »Wovon hatte Darwin keine Ahnung, Ian?«
»Daß das Leben
ein komplexes System ist«, sagte er, »und alles, was dazugehört. ›Fitness‹-Landschaften.
Evolutions-Touren. Boolesche Netze. Selbstorganisierendes Verhalten. Armer Mann
… Autsch! Was machst du da?«
»Erzähl einfach
weiter«, sagte Sarah, über die Wunde gebeugt. »Darwin hatte keine Ahnung …«
»Daß das Leben
so unglaublich komplex ist. Ich meine, ein einziges befruchtetes Ei hat
100 000 Gene, die koordiniert agieren, sich zu ganz bestimmten Zeiten an-
und wieder abschalten, um aus dieser einzelnen Zelle ein vollständiges Lebewesen
zu machen. Diese eine Zelle teilt sich, und die nachfolgenden Zellen sind
anders. Sie spezialisieren sich. Aus einigen werden Nerven. Aus anderen Organe.
Aus wieder anderen Gliedmaßen. Jede Zellformation folgt ihrem eigenen Programm,
sie entwickelt sich, zeigt Wechselwirkungen mit anderen. Schließlich gibt es 250
verschiedene Arten von Zellen, die sich alle gemeinsam entwickeln, zu genau der
richtigen Zeit. In dem Augenblick, da der Organismus ein Kreislaufsystem
braucht, fängt das Herz an zu schlagen. Sobald Hormone benötigt werden, fangen
die Nebennierendrüsen an, sie zu produzieren. Woche um Woche vollzieht sich
diese unglaublich komplexe Entwicklung mit absoluter Präzision – das ist
perfekt. Keine menschliche Aktivität kann diese Perfektion erreichen.
Nehmen wir zum
Beispiel den Bau eines Hauses. Ein Haus ist vergleichsweise einfach. Aber trotzdem
bauen die Arbeiter die Treppen falsch, sie setzen das Waschbecken verkehrt
herum ein, der Fliesenleger kommt nicht, wann er soll. Alles mögliche geht
schief. Und doch ist die Fliege, die auf der Brotzeit des Arbeiters landet,
perfekt. Autsch! Nicht so stürmisch.«
»Sorry«, sagte
Sarah und reinigte weiter seine Wunde.
»Aber der
springende Punkt ist der«, fuhr Malcolm fort, »daß dieser hochkomplizierte
Entwicklungsprozeß in der Zelle etwas ist, das wir kaum beschreiben, geschweige
denn verstehen können. Man muß sich die Grenzen unseres Begriffsvermögens bewußtmachen.
Mathematisch können wir zwei wechselwirkende Sachen beschreiben, zwei Planeten
im All etwa. Drei wechselwirkende Sachen – drei Planeten im All –, das wird schon
ein Problem. Vier oder fünf wechselwirkende Sachen, das schaffen wir nicht
mehr. Aber in der Zelle gibt es Wechselwirkungen zwischen 100 000 Dingen.
Da kann man sich nur die Haare raufen. Es ist so komplex – wie ist es da überhaupt
möglich, daß es so etwas wie Leben gibt? Einige Leute glauben, die Antwort ist,
daß Lebensformen sich selbst organisieren. Das Leben schafft seine eigene
Ordnung, so wie die Kristallisation Ordnung schafft. Einige Leute glauben, das
Leben kristallisiert sich zum Sein und daß so diese Komplexität bewältigt wird.
Weil man
nämlich, wenn man nichts von physikalischer Chemie wüßte, sich einen Kristall anschauen
und dieselben Fragen stellen könnte. Man sieht diese wunderschönen Spate, diese
perfekten geometrischen Facetten, und man könnte sich fragen: Was kontrolliert
diesen Prozeß? Wie kommt dieser Kristall zu seiner so perfekten Form, und warum
sieht er anderen Kristallen so ähnlich? Aber es zeigt sich, daß ein Kristall
nur das Resultat der spezifischen Art und Weise ist, wie die Molekularkräfte
sich in fester Form arrangieren. Viele Fragen über einen Kristall zu stellen, bedeutet,
das zugrundeliegende Wesen der Prozesse nicht zu verstehen, die zu seiner Erschaffung
geführt haben.
Vielleicht sind
Lebensformen also eine Art von Kristallisation. Vielleicht ereignet sich das
Leben einfach. Und vielleicht hat alles Lebendige wie die Kristalle eine charakteristische
Ordnung, die von der Wechselwirkung ihrer Elemente erzeugt wird. Okay. Nun,
eins können wir von den Kristallen lernen, nämlich, daß Ordnung sehr schnell
entstehen kann. Anfangs hat man eine Flüssigkeit, in der sich alle Moleküle
willkürlich bewegen. Und im nächsten Augenblick hat man eine kristalline Form,
und alle Moleküle sind zu einer festen Ordnung verbunden. Richtig?«
»Richtig.«
»Okay. Nehmen
wir jetzt die Wechselwirkungen der Lebensformen auf dem Planeten, die ein Ökosystem
produzieren. Das ist noch viel komplexer als ein einzelnes Lebewesen. All die
Arrangements sind sehr kompliziert. Die Yucca-Palme zum Beispiel.
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