Vergessene Welt
Weißt du über
die Bescheid?«
»Erzähl.«
»Die Yucca-Palme
ist abhängig von einer bestimmten Motte, die aus dem Blütenstaub eine Kugel
formt, diese Kugel zu einer anderen Pflanze – nicht einer anderen Blüte derselben
Pflanze – trägt, mit der Kugel über die Pflanze reibt und sie so befruchtet.
Erst dann legt die Motte ihre Eier. Die Yucca-Palme kann nicht überleben ohne
die Motte. Die Motte kann nicht überleben ohne die Yucca-Palme. Komplexe
Interaktionen wie diese können einen auf den Gedanken bringen, daß vielleicht
auch das Verhalten eine Art Kristallisation ist.«
»Metaphorisch
gesprochen?« fragte Sarah.
»Ich rede von
der Ordnung in der Natur«, entgegnete Malcolm. »Und wie sie vielleicht sehr
schnell entstehen kann, durch Kristallisation. Weil komplexe Lebewesen ihr
Verhalten rasant entwickeln können. Veränderungen können sehr schnell eintreten.
Die Menschen verändern den Planeten, und niemand weiß, ob das eine gefährliche
Entwicklung ist oder nicht. Verhaltensprozesse können also schneller ablaufen,
als wir es normalerweise bei der Evolution erwarten. In 10 000 Jahren sind
die Menschen von der Jagd über den Ackerbau zu Städten und schließlich zum
Cyberspace gekommen. Verhalten ändert sich rasend, und es kann sein, daß es
eine nichtadaptive Veränderung ist. Das weiß niemand. Obwohl ich persönlich den
Cyberspace für das Ende unserer Spezies halte.«
»Ja? Warum?«
»Weil er das
Ende der Innovation bedeutet«, sagte Malcolm. »Die Vorstellung, daß die ganze
Welt vernetzt ist, bedeutet Massensterben. Jeder Biologe weiß, daß sich kleine
Gruppen in Isolation am schnellsten entwickeln. Setzt man 1000 Vögel auf eine
Insel im Ozean, entwickeln die sich sehr schnell. Aber setzt man 10 000
Vögel auf einen großen Kontinent, verlangsamt sich ihre Entwicklung. Was unsere
Spezies angeht, so vollzieht sich bei uns die Evolution vorwiegend über das
Verhalten. Anpassung bedeutet bei uns Verhaltensinnovation. Und jeder auf Erden
weiß, daß es nur in kleinen Gruppen zu Innovationen kommt. Drei Leute in einem
Komitee können etwas bewirken. Bei 10 wird’s schon schwieriger. Bei 30 Leuten
geschieht nichts. Und bei 30 Millionen wird es unmöglich. Das ist die Wirkung
der Massenmedien – sie verhindern, daß etwas geschieht. Die Massenmedien
vernichten die Vielfalt. Sie machen alles gleich. Ob in Bangkok, Tokio oder
London, überall gibt’s einen McDonald’s an der einen Ecke und einen
Benetton-Laden an der anderen. Regionale Unterschiede verschwinden. Alle
Unterschiede verschwinden. In der Welt der Massenmedien gibt’s von allem
weniger außer den Top Ten bei Büchern, Schallplatten, Filmen, Ideen. Leute
machen sich Sorgen um den Verlust der Artenvielfalt im Regenwald. Aber was ist
mit der intellektuellen Vielfalt – unserer wichtigsten Ressource? Die verschwindet
schneller als die Bäume. Das haben wir nicht kapiert, und deshalb planen wir,
fünf Milliarden Menschen im Cyberspace zusammenzustecken. Das wird die ganze
Spezies zur Erstarrung bringen. Alles wird stehenbleiben. Jeder wird zur selben
Zeit dasselbe denken. Globale Gleichförmigkeit. Au, das tut weh. Bist du fertig?«
»Fast«, sagte
Sarah. »Halt durch.«
»Und es wird
schnell gehen, das kannst du mir glauben. Wenn man komplexe Systeme auf einer
›Fitness‹-Landschaft darstellt, wird man feststellen, daß Verhalten sich so
schnell ändern kann, daß es zu einem dramatischen Absinken der ›Fitness‹ führen
kann. Dazu sind weder Asteroiden noch Krankheiten noch sonstwas nötig. Es ist
einfach nur Verhalten, das plötzlich auftritt und für die Wesen, die es
annehmen, fatale Folgen hat. Meine Theorie ist, daß die Dinosaurier – die ja
komplexe Wesen sind – möglicherweise eine dieser Verhaltensänderungen an den
Tag gelegt haben. Und daß die zu ihrem Aussterben führte.«
»Was, alle?«
»Es reichen
einige wenige«, erwiderte Malcolm. »Irgendein Dinosaurier wühlt in den Sümpfen
um das Binnenmeer, verändert den Wasserkreislauf und zerstört die Pflanzenökologie,
von der 20 andere Gattungen anhängig sind. Peng! Sie sind verschwunden. Das
verursacht noch weitere Verschiebungen. Ein Raubtier stirbt aus, und seine Beutetiere
vermehren sich unkontrolliert. Das Ökosystem gerät aus dem Gleichgewicht.
Andere Sachen gehen schief. Und weitere Gattungen sterben aus. Und plötzlich
ist alles vorbei. So hätte es passiert sein können.«
»Nur Verhalten
…«
»Ja«, sagte
Malcolm. »Das war zumindest meine
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