Vergessene Welt
die wir hier sehen. Sie sagen nichts aus über die komplexe Interaktion
von Gruppen.«
»Weil Fossilien
nur Knochen sind«, sagte Arby.
»Genau. Und
Knochen sind kein Verhalten. Wenn man es sich überlegt, sind Fossilienfunde wie
eine Serie von Fotos. Starre Momentaufnahmen einer sich eigentlich bewegenden,
verändernden Wirklichkeit. Fossilienbetrachtung ist wie Blättern in einem
Familienalbum. Man weiß, daß das Album kein vollständiges Bild zeigt. Man weiß,
daß das Leben zwischen den Bildern passiert. Aber es gibt keine Belege für das
Leben dazwischen, es gibt nur die Bilder. Also betrachtet man sie wieder und
wieder. Und bald sieht man das Album nicht mehr als eine Aneinanderreihung von
Augenblicken, sondern als die Wirklichkeit selbst. Man fängt an, alles in Kategorien
des Albums zu erklären, und man vergißt die zugrundeliegende Wirklichkeit. Und
die Tendenz ist«, fuhr Malcolm fort, »in Kategorien physikalischer Ereignisse
zu denken. Anzunehmen, daß ein äußeres physikalisches Ereignis Ursache des
Aussterbens war. Ein Meteor trifft die Erde und ändert das Klima. Oder Vulkane
brechen aus und ändern das Klima. Oder ein Meteor verursacht einen Vulkanausbruch
und ändert das Klima. Oder die Vegetation ändert sich, Arten hungern und
sterben aus. Oder eine neue Krankheit taucht auf, und Arten sterben aus. Oder
eine neue Pflanze entsteht und vergiftet die Dinosaurier. In jedem Fall stellt
man sich also ein äußeres Ereignis vor. Aber niemand kommt auf den Gedanken,
daß die Tiere selbst sich vielleicht verändert haben – nicht in ihren Knochen,
sondern in ihrem Verhalten. Aber wenn man Tiere wie diese betrachtet und sieht,
was für komplexe Wechselbeziehungen zwischen dem Verhalten der einzelnen Arten
bestehen, kann man sich vorstellen, daß durchaus auch eine Änderung des Gruppenverhaltens
zum Aussterben geführt haben kann.«
»Aber warum
sollte sich das Gruppenverhalten ändern?« fragte Thorne. »Wenn es keine äußere
Katastrophe gibt, die das erzwingt, warum sollte sich das Verhalten ändern?«
»Genaugenommen«,
sagte Malcolm, Ȋndert Verhalten sich ununterbrochen, die ganze Zeit. Unser
Planet ist ein dynamischer, aktiver Lebensraum. Das Wetter ändert sich. Das
Land ändert sich. Kontinente wandern. Ozeane heben und senken sich. Gebirge
wachsen und erodieren wieder. Alle Organismen passen sich beständig an diese
Veränderungen an. Die besten Organismen sind die, die sich am schnellsten
anpassen können. Deshalb ist es so schwer vorstellbar, daß eine Katastrophe,
die große Veränderungen auslöst, Ursache des Aussterbens sein kann, weil ja die
ganze Zeit so viele Veränderungen passieren.«
»Wenn das so
ist«, sagte Thorne, »was ist dann die Ursache des Aussterbens?«
»Auf jeden Fall nicht
ein schneller Wechsel allein«, entgegnete Malcolm. »Die Fakten zeigen das
deutlich.«
»Welche Fakten?«
»Auf jede
größere Änderung in der Umwelt folgte für gewöhnlich eine Aussterbenswelle –
aber nicht sofort. Zum Aussterben kommt es oft erst Tausende oder Millionen von
Jahren später. Zum Beispiel die letzte Eiszeit in Nordamerika. Die Gletscher
breiteten sich aus, das Klima änderte sich deutlich, aber es starben keine
Tiere aus. Erst als die Gletscher wieder zurückgingen, zu einem Zeitpunkt also,
da man erwarten würde, daß alles sich wieder normalisierte, starben viele Arten
aus. In dieser Zeit verschwanden die Giraffen und Tiger und Mammuts von diesem
Kontinent. Und das ist das übliche Muster. Es ist fast so, als würden die Arten
von der großen Veränderung geschwächt, aber erst später aussterben. Es ist ein
bekanntes Phänomen.«
»Und was ist die
Erklärung dafür?«
Levine schwieg.
»Es gibt keine«,
sagte Malcolm. »Es ist ein paläontologisches Rätsel. Aber ich glaube, daß die
Komplexitätstheorie uns viel dazu sagen kann. Denn wenn die Vorstellung vom
Leben am Rand des Chaos zutrifft, dann schieben größere Veränderungen die Lebewesen
näher an diesen Rand. Sie destabilisieren alle Arten von Verhalten. Und wenn
dann die Umwelt sich wieder normalisiert, ist das eben keine Rückkehr zur
Normalität mehr, sondern, in evolutionärer Hinsicht, eine weitere große Veränderung,
und viele können damit nicht mehr Schritt halten. Ich glaube, daß Populationen
auf sehr unerwartete Art und Weise neues Verhalten an den Tag legen können, und
ich glaube, ich weiß, warum die Dinosaurier –«
»Was ist das?«
fragte Thorne.
Thorne schaute
zu der Baumgruppe hinüber
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