Vergib uns unsere Sünden - Thriller
essen, nicht zur Toilette gehen, kaum sprechen …«
»Hatte sie keine ärztliche Hilfe?«
»Meine Mutter und mein Vater hatten kein großes Vertrauen zu ihren Mitmenschen. Ob einer den anderen angesteckt hat oder beide von Anfang an so waren, weiß ich nicht. Jedenfalls glaubte er, die Ärzte würden uns all unser Geld abnehmen und sie trotzdem nicht heilen können, also hat er selber alles über die Krankheit gelesen, was er finden konnte. Ich glaube, am Ende wusste er besser Bescheid als viele der Experten, mit denen er geredet hat.«
»Aber als es so schlimm wurde, dass sie nicht mehr sprechen konnte, da hätte er doch Hilfe holen müssen.«
»Ich vermute, sie hatten ein Abkommen. Meine Mutter wollte um nichts in der Welt in ein Krankenhaus. Sie wollte zu Hause sterben, bei ihrem Mann und ihrem Sohn.«
»Und er hat sie getötet …?«
»Sie starb, Catherine. Am Ende starb sie so schnell, dass wir nicht wussten, ob es heute oder morgen oder übermorgen zu Ende sein würde. Es hat ihn zerbrochen. Sie waren über zwanzig Jahre lang unzertrennlich gewesen, haben mit einer Stimme geredet. Weil sie es so wollten. Manchmal hab ich gedacht, sogar ich war eigentlich ein Irrtum.«
»Wieso?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht war es Einbildung, aber ich hatte manchmal das Gefühl, sie hätten auch die Zeit, die sie mit mir verbringen mussten, viel lieber für sich allein gehabt. Irgendwann ging ich aufs College. Ich war keine sechs Monate dort, da rief er mich an, weil er meine Hilfe brauchte. Weil er nicht mehr allein damit fertig wurde. Ich weiß noch, wie ich mich vor ihr gefürchtet habe, weil sie nicht mehr wie meine Mutter aussah. Sie war jemand geworden, den ich nicht mehr erkannte.«
»Wann war das? Im Herbst 79?«, fragte Catherine.
Ich muss sie wohl ziemlich entgeistert angestarrt haben. »Gott«, sagte ich. »Das ist erst anderthalb Jahre her. Kommt mir viel länger vor.« Ich blieb eine Weile lang stumm, wie abwesend,
dachte darüber nach, wie wenig Zeit erst vergangen war, seit sie nicht mehr lebten. »Anfang August bin ich nach Hause zurückgekehrt. Sechs Wochen später war sie tot.«
»Und was ist nach deiner Rückkehr vom College passiert?«
Ich sah Catherine an, nur eine Sekunde, aber in dieser Sekunde meinte ich etwas bei ihr zu entdecken, das mir sehr nahe war. Einen vagen Reflex, eine ähnliche Erinnerung.
»Warum willst du das alles wissen?«, fragte ich.
»Ich will es gar nicht genauer wissen als alles andere. Aber du hast nie darüber gesprochen.« Sie versuchte zu lächeln. »Na ja, stimmt schon, es ist nicht das Einzige, worüber du nie gesprochen hast, aber gerade über das, worüber andere Leute als Erstes reden, hast du dich ausgeschwiegen. Normalerweise erzählen die Menschen von ihren Eltern, wo sie herkommen, auf welche Schule sie gegangen sind … Du nicht.« Sie schaute zur Seite und wirkte für einen Moment zögerlich. »Erzähl, was passiert ist, als du vom College zurückgekommen bist.«
»Ich hab ihm im Keller helfen müssen … in seiner Werkstatt.«
»Was musstest du machen?«
»Kleine Holzteile schmirgeln und polieren.«
»Er …«
»Er ließ mich Holzteile schmirgeln und polieren. Mahagoni, Teak, Walnuss. Jedes verschieden, anders geformt. Wir saßen jeden Tag ein paar Stunden zusammen und haben das gemacht.«
»Und warum, um Himmels willen?«
»Kennst du dich mit Orchideen aus?«
Catherine schüttelte den Kopf.
»Meine Mutter hat Orchideen geliebt. Sie hätte gerne ein Treibhaus gebaut, um Orchideen zu züchten … Und eine Sorte hatte es ihr besonders angetan. Den Namen hab ich
vergessen, aber die Blüte sah aus wie ein Kindergesicht. Mein Vater hat sie aus lauter kleinen Holzstücken nachgebaut. Als Medaillon im Deckel ihres Sargs.«
Ich schaute hoch zu Catherine.
Ihr Lächeln starb einen stillen, einsamen Tod. »Du hast ihm geholfen, ihren Sarg zu bauen?«
»Na klar. Er war Tischler, den Job hat er niemand anderem überlassen.«
»Und du hast nicht gewusst, was er da machte?«
»Zuerst nicht … Zuerst hab ich gedacht, er baut eine Schranktür, aber als die Orchidee fertig war und er sie in die Mitte dieses … Mein Gott, das war ja längst noch nicht alles, Catherine. Er sagte mir, was ich machen soll, und während er oben bei meiner Mutter war, arbeitete ich unten im Keller, und was mich stutzen ließ, war die Größe. Weil das Ding so verdammt groß war, bin ich nicht gleich darauf gekommen, was er da macht …« Ich spürte die feste Faust der
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