Vergib uns unsere Sünden - Thriller
so, ihr wisst schon. Und haltet mich über alles, was sich tut, auf dem Laufenden. Ich erwarte drei bis vier Anrufe stündlich, kapiert?«
Lassiter verließ den Raum.
Miller wartete, bis die Schritte seines Vorgesetzten verhallt waren, dann ließ er sich schwer auf einen der Stühle fallen. Er atmete tief durch und schloss die Augen. »Ich habe mich über ihren Leichnam gebeugt«, sagte er leise. »Natasha Joyce. Gestern habe ich in ihrem Schlafzimmer gestanden und auf die Frau hinuntergeschaut, und dabei musste ich an ihr Kind denken.« Er blickte hoch zu Roth. »Neun Jahre. Zur Welt gebracht von einem Mädchen draußen in den Projects, der Vater ein Junkie, steckt bis zum Hals in jedem nur denkbaren Schlamassel, endet als V-Mann und wird bei einer Scheißrazzia erschossen, bei der er nach allem, was ich über Dienstvorschriften weiß, nichts verloren hatte. Er ist tot, das Kind wird von seiner Mom großgezogen, der klassische Fall der Alleinerziehenden, bis Mom von diesem Kerl tranchiert wird. Jetzt hat sie einen toten Junkie als Vater, das Opfer eines berüchtigten Serienkillers als Mutter.« Miller schlug die Augen auf, beugte sich vor. »Was für ein gottverdammtes Elend. Ich meine, was ist das für ein Scheißleben für einen Menschen? Jetzt ist sie beim Jugendamt, kommt in staatliche Obhut, erst in ein Waisenhaus, später in eine Einrichtung für Jugendliche, von einem Heim ins nächste …« Als er ausatmete, klang es wie ein Seufzer tiefster Resignation und Erschöpfung.
Roth beugte sich vor und ergriff für einen Moment Millers Hand. Eine beruhigende, unendlich geduldige Geste. »Ich will dir was sagen …«, setzte er an.
»Was willst du mir sagen? Dass ich mal wieder richtig bumsen soll?«
Roth lachte. »Nein, das nicht … Das heißt, so weit weg davon ist es gar nicht. Dir fehlt es am richtigen Gleichgewicht, wollte ich sagen …«
Miller runzelte die Stirn.
»Ich habe auch den lieben langen Tag mit dieser Scheiße zu tun, mit dem Abschaum und den Verbrechern. Genau wie du. Ich kriege es mit Bekloppten und Junkies zu tun, mit allem, was diese Welt uns an einem stinknormalen Montagmorgen so vor den Latz knallt, und trotzdem gibt es einen fundamentalen Unterschied zwischen dir und mir.«
»Du hast eine Frau und eine Familie. Mein Gott, das weiß ich, Mann … Wie oft hast du mir den Quatsch schon vorgebetet?«
Roth hob die Hand. »Erinnerst du dich an das Wochenende vor dem Mord an der Sheridan?«
»Natürlich erinnere ich mich … Das war der 4. oder der 5. November.«
»Der 4.«, sagte Roth. »Samstag, der 4. November.«
»Und? Was soll da gewesen sein?«
»Was hast du da gemacht?«
Miller schüttelte fragend den Kopf. »Himmel, was weiß ich? Woher, zum Henker, soll ich wissen, was ich an einem Samstag vor zwei Wochen gemacht habe?«
Roth lächelte vielsagend. »Eben, das meine ich.«
»Was. Dass ich ein schlechtes Gedächtnis habe?«
»Nein, verflucht. Dass du nicht etwas getan hast, an das es sich zu erinnern lohnt.«
»Ich habe kein Leben, das willst du mir damit sagen.«
»Ja, verdammt … Das weißt du doch selber, dass du kein richtiges Leben hast.«
»Okay, okay, jetzt hast du’s gesagt«, sagte Miller sarkastisch.
»Und du? Was hast du Erinnernswertes an diesem Tag getrieben?«
»Samstagmorgen haben wir uns mit Amandas Familie bei Alexandria Old Town getroffen. Sie hatten den Ausflug für die Kinder geplant, ohne uns ein Wort zu sagen, sind mit uns in den Shenandoah National Park gefahren, wir haben in einem Hotel übernachtet, das in der bombastischsten Landschaft steht, die du je gesehen hast. Es hat einen umgehauen, Mann, total umgehauen. Am Nachmittag standen wir am Fuß der Blue Ridge Mountains, Amandas Vater hat Abi auf den Schultern, Amanda geht neben Luke, Stacey ist mit Amandas Mutter ein Stück weiter hinten, und ich bleibe einen Moment stehen, um einen Blick hinüber zum Bearfence Mountain zu werfen, und der Anblick raubt mir schlichtweg den Atem. Ich sage dir, Mann, wenn du so etwas siehst, dann rückt das für einen Augenblick alle Perspektiven zurecht. So ein Anblick macht den ganzen Mist, aus dem du kommst und der am Montag weitergeht, ein bisschen weniger wichtig. Unser Hotel war im Stil des neunzehnten Jahrhunderts eingerichtet …«
Miller hob die Hand. »Okay, es reicht. Nächster Programmpunkt Frances Gray in der Polizeiverwaltung. Die besuchen wir jetzt.«
»Ich bin noch nicht fertig mit meiner Geschichte …«
Miller lächelte. »Doch, bist du, du
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