Vergiftet
dreht sich um.
»Ah, hallo, da sind Sie ja.«
An der Wand über Even Nylund hängen vier Bildschirme. Nylund steht auf, als Henning eintritt. Sie begrüßen sich per Handschlag.
»Dann haben Sie den Weg also gefunden.«
Nylund zeigt auf einen Stuhl. Henning setzt sich.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen lassen?«
Henning schüttelt den Kopf, obwohl sein Hemd schweißnass und sein Hals trocken ist. Er sieht sich um. Die Wände sind geschmückt mit Bildern von leicht bekleideten Damen, Reklameplakaten und Presseartikeln. Auf den Bildschirmen wechseln im Sekundentakt die Bilder. Sie zeigen die Bar, die Bühne, das Lokal aus der Vogelperspektive und ein Bild vor dem Eingang. Petter Holte steht wie angewurzelt da und hat die Hände unter seinen Gürtel geschoben.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagt Nylund.
»Ach ja?«
»Ich habe heute Morgen schon mit Geir Grønningen gesprochen. Er hat angedeutet, dass Sie möglicherweise vorbeikommen. Schrecklich, was mit Ihrem Kollegen passiert ist«, sagt Nylund und schüttelt den Kopf.
Henning mustert ihn. Er ist unsicher, wie er dieses täuschend echte Mitgefühl deuten soll.
»Ihr Kollege sagte, Sie wollten beweisen, dass Tore Pulli unschuldig war?«
Henning legt eine Hand vor seinen Mund und räuspert sich. »So, so, hat er das gesagt? Ja, das wollten wir wohl. Und ich frage mich nun, ob er deshalb zusammengeschlagen worden ist.«
»Und von wem?«
»Tja, das ist die große Frage. Von Ihnen vielleicht?«
Nylund lächelt. »Sehen Sie mich an«, sagt er. »Ich wiege achtundsechzig Kilo, und im Armdrücken besiegen mich sogar einige meiner Mädchen.«
»Ja, möglich. Aber unter Ihren Mitarbeitern sind Leute, die dafür bekannt sind, gerne die Drecksarbeit zu übernehmen.«
Henning zeigt auf Petter Holte, der gebieterisch die Hand hebt und einen Mann mittleren Alters zurückhält, der auf den Eingang zutaumelt.
»Ich kann Ihnen versichern, Juul, dass von uns niemand etwas mit dem Angriff auf Ihren Kollegen zu tun hat.«
»Haben Sie wirklich die Kontrolle darüber, was Ihre Mitarbeiter zu jedem Zeitpunkt tun?«
»In der Arbeitszeit schon.«
»Und das überwachen Sie von hier aus?« Henning deutet auf die Monitore.
»… und indem ich nach unten gehe und mich selbst davon überzeuge.«
»Ah ja. Werden diese Aufnahmen aufgezeichnet?«
»Ja.«
»Dann könnten Sie also herausfinden, wer die Bar verlassen hat, nachdem mein Kollege gegangen ist?«
»Ja, das kann ich.«
»Würden Sie das für mich tun?«
Nylund lächelt. »Was mit Ihrem Kollegen passiert ist, tut mir wirklich leid, Juul, aber meine Gäste haben einen Anspruch auf Diskretion. Ich kann Ihnen nicht zeigen, was hier los ist, nur weil Sie mich darum bitten.«
»Ich kann die Polizei bitten herzukommen.«
»Ich bitte Sie! Die Polizisten können sich die Aufnahmen ansehen, wenn sie Papiere mitbringen, aus denen hervorgeht, dass es für die Ermittlungen relevant ist. Und lassen Sie es mich ausdrücklich gesagt haben: Das ist nicht persönlich gemeint.«
»Hm.«
Henning sieht sich noch einmal um. Eine der Videokameras zeigt auf eine Tür mit der Aufschrift Glitne .
»Was hat es eigentlich mit der nordischen Mythologie auf sich?«, fragt Henning und wendet sich wieder Nylund zu.
»Das war Vidars Idee.«
»Vidar Fjell?«
»Als ich vor einigen Jahren diesen Laden eröffnen wollte, überlegten wir, was wir machen könnten, damit er sich von anderen unterschied. In diesem Zusammenhang hat Vidar mir von Frøya und den Wikingern erzählt. Ich hab mich gleich von der nordischen Sexwelt anstecken lassen. Ich glaube, das ging allen so. Eine gute Werbestrategie, dachten wir und kamen dann schließlich auf den Namen Åsgard .«
»Vidar hat sich für nordische Mythologie interessiert?«
»Ja, sehr.«
Interessant, denkt Henning und erinnert sich daran, dass Fjells Vater Professor für Nordistik war. Dort muss sein Interesse herkommen. Henning spürt, dass ihn diese Erkenntnis irgendwie freut, ohne zu wissen, warum.
Er bleibt sitzen und starrt auf die tickende Uhr in der unteren rechten Ecke des Bildschirms. Er denkt an die neunzehn Minuten, für die Tore Pulli keine Erklärung hatte. Wenn er wirklich unschuldig und tatsächlich pünktlich gekommen war – wie konnte die Zeit dann plötzlich so gerast sein?
Die Antwort ist ganz einfach, denkt Henning, irritiert, dass ihm diese Erkenntnis nicht schon eher gekommen ist. Die Zeit vergeht nicht schneller, außer man sorgt dafür.
Jemand musste Pullis Handy
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