Vergiftet
Nachtluft unter den blinkenden Sternen.
»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragt einer der Männer.
Thorleif sieht, dass der Mann mit dem Pferdeschwanz sich umsieht, in Richtung Berge blickt und dann nickt.
»Du machst Witze?«
»Nein«, sagt er, schneidet eine Grimasse und hält sich die Schulter. Seine Hände sind blutüberströmt.
Sie warten, bis auch der dritte Mann aus der Hütte kommt. Selbst in dem bescheidenen Licht erkennt Thorleif, dass die Tüte, die er in der Hand hält, voll mit blutigen Küchentüchern ist.
»Ihr müsst den Rest ohne mich machen. Ich muss mich um das hier kümmern«, sagt der Mann und zeigt auf seine Schulter.
Thorleif blickt resigniert in Richtung Berge. Er sieht Påls Gesicht vor sich. Der Junge lächelt fröhlich, und in seinen Augen glänzt – wie immer, wenn er glücklich ist – dieses ganz spezielle Funkeln. Julie steht neben ihm, winkt Thorleif wild zu und lächelt, mit diesen tiefen Grübchen in ihren Wangen. Hinter den beiden steht Elisabeth, in sich ruhend, schön, wunderbar. Sie winkt ihm mit dem Lesezeichen zu, das er ihr geschenkt hat. Die erste Aufmerksamkeit, die sie von ihm bekommen hat, nachdem sie zusammen waren. Ein schlichtes rotes Lesezeichen. »Damit du immer weißt, wo du bist und dass ich für dich da bin«, hat er damals gesagt. Und jetzt kommt tatsächlich auch noch der Hirte mit seinen wilden Hunden.
Dann entfernen sich alle wieder, werden Meter für Meter kleiner. Thorleif bleibt stehen und starrt nach oben in den Mond. Oder ist das die Sonne? Marokko?
Ja, das ist Marokko, denkt er und weiß von ganzem Herzen, stärker als es ihm jemals bewusst war, dass es möglich ist, jemanden über alles zu lieben.
TEIL III
90
Es ist fünf vor eins. Das heißt, dass Petter Holte jetzt wahrscheinlich nicht zu Hause ist, denkt Henning; das sonntägliche Training ist ihm schließlich heilig. Er bleibt vor dem Wohnblock in der Herslebs gate stehen und drückt die Klingel von Tore Pullis Cousin. Keine Antwort. Henning probiert es noch einmal und wartet eine halbe Minute, bis er sich in seiner Annahme bestätigt fühlt. Danach drückt er sämtliche zwölf Klingelknöpfe und hofft, dass wenigstens einer der Nachbarn ihn einlässt.
Sekunden später zieht Henning mit einem zufriedenen Lächeln die Tür auf und tritt in einen Flur, in dem drei Kinderwagen den Zugang zur Treppe versperren. Weiter oben hört er arabische Musik durch eine Tür. Henning kämpft sich durch die Barrikade. In der vierten Etage klopft er an Holtes Tür, dann klingelt er, ohne eine Reaktion zu bekommen. Henning sieht sich das Türschloss genauer an. Ein gewöhnlicher Schließzylinder.
Vor ein paar Jahren hat er mal einen Artikel darüber geschrieben, wie einfach es ist, bei Leuten einzubrechen. Er musste nicht lange im Internet nach einer effektiven Vorgehensweise suchen, mit der sich gewöhnliche Schlösser knacken lassen. Besonders interessant erschien ihm die Schlagschlüsseltechnik, die schon vor einem Vierteljahrhundert von dänischen Schlossern erfunden wurde. Das Geheimnis liegt darin, einen Schlüsselrohling so abzufräsen, dass die Bartzacken des Schlüssels widerstandslos in das Schloss gleiten. Der Anschlag des Schlüssels wird etwas weiter abgefeilt, sodass der Schlüssel, wenn er ganz im Schloss steckt, durch einen kurzen Schlag mit einem Hammer oder Ähnlichem noch weiter ins Schloss getrieben werden kann. Die dadurch entstehende Friktion treibt die Stifte im Schloss wie Billardkugeln beim Break nach oben, sodass der Schlüssel gedreht und die Tür geöffnet werden kann.
Henning hat die Technik zuerst an seiner eigenen Wohnungstür getestet und danach noch einmal bei einem Bekannten. Den Schlagschlüssel hat er an seinem Schlüsselbund behalten, was ihm jetzt hoffentlich nutzen wird.
Dabei weiß er gar nicht genau, was er bei Holte zu finden hofft. Aber da es nun mal unmöglich scheint, auf normalem Weg an diese Leute ranzukommen, muss er eben andere Wege gehen, um mehr über sie herauszufinden.
Henning zieht Latexhandschuhe über, nimmt den Hammer, den er von zu Hause mitgenommen hat, schiebt den Schlüssel ins Schloss und verpasst ihm einen Schlag, der von den Wänden widerhallt. Dann dreht er den Schlüssel um und öffnet die Tür. Eine leichte Übung.
Die Stille verrät ihm, dass er allein ist. Im Flur stehen zwei Paar identische Stiefel neben ausgetretenen Trainingsschuhen. An der Garderobe hängt eine glänzend schwarze Lederjacke. Ein weißer Querstreifen in
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