Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
üben wollten. Mein Vater schaute ihr lächelnd hinterher und wandte sich wieder Warren und mir zu, die wir beide immer noch wie versteinert dasaßen.
»Ich meine das ernst«, unterstrich er und wedelte mit den Händen, wie um uns zu verscheuchen. »Zusätzlich zu diesem Fall werde ich in Kürze mit einem sehr wichtigen Projekt anfangen. Und dafür brauche ich ein bisschen Ruhe.«
»Ein Projekt?«, erkundigte sich Warren. »Was denn für eins?«
»Ein Projekt eben«, antwortete Dad ausweichend und betrachtete die Unterlagen in seiner Hand.
»Aha«, sagte Warren betont gelassen. So klang er immer, wenn er beleidigt war und es nicht zeigen wollte. »Du willst also nicht, dass wir mit dir zusammen sind?«
»Darum geht es doch gar nicht«, widersprach Dad gequält. »Natürlich will ich mit euch zusammen sein. Aber nicht so. Ihr sollt rausgehen und den Sommer genießen.« Warren holte tief Luft und wollte Dad vermutlich gerade bitten, das zu präzisieren. Doch der ließ ihm keine Chance. »Ihr könnt machen, wozu ihr Lust habt. Aber ich will, dass ihr was macht. Sucht euch ’nen Job, lest die gesammelten Werke von Dickens. Lernt Jonglieren. Was auch immer. Aber hört auf, hier rumzuhängen,okay?«
Obwohl für mich nichts davon auch nur ansatzweise verlockend klang, nickte ich. Ich hatte noch nie einen Ferienjob gehabt, interessierte mich null fürs Jonglieren und hatte nach dem ersten Jahr an der Highschool Dickens so ziemlich abgehakt. Von der ersten Seite an fand ich Eine Geschichte aus zwei Städten ziemlich abwegig, weil ich nicht ganz kapierte, wie etwas die beste und die schlimmste Zeit zugleich sein konnte.
Im Gegensatz zu mir hatten Warren und Gelsey keinerlei Probleme, sich zu beschäftigen. Gelsey legte ab sofort eine tägliche Ballettstunde mit meiner Mutter ein, um nicht zu sehr in Trainingsrückstand zu geraten. Außerdem hatte Mom die Leute vom Freizeitzentrum irgendwie überzeugt, dass Gelsey dort mehrmals in der Woche einen Raum zum Trainieren nutzen konnte, wenn dieser gerade nicht mit Senioren-Yoga belegt war. Im Gegenzug hatte Gelsey sich von meiner Mutter zu Tennisstunden überreden lassen. Warren stürzte sich begeistert auf seine Bücher, die wahrscheinlich die komplette Pflichtlektüre des ersten Studienjahres ausmachten, und war damit entweder auf der Veranda oder am Steg zu finden, wo er sich unentwegt mit dem Textmarker zu schaffen machte. Die ganze Situation zeigte mir wieder mal überdeutlich, wie verschieden meine Geschwister und ich waren. Sie hatten immer was zu tun – und zwar das, was sie schon immer getan hatten und wahrscheinlich schon kurz nach der Geburt als ihre große Begabung erkannt hatten. Und während sie zielstrebig ihre hochgesteckten Ziele verfolgten, blieb ich wie üblich mir selbst überlassen.
Fünf Tage lang lief ich ziellos umher und hatte ständig das Gefühl, im Weg zu sein. Vorher war mir nie aufgefallen, wie klein das Haus eigentlich war und wie wenig Platz man darin hatte, um sich zu verkriechen. Seit den beiden peinlichen Begegnungen mit Henry mied ich sowohl den Steg als auch den Wald und ging überhaupt kaum noch nach draußen, abgesehen von meinen abendlichen Gängen zum Bärenkasten, um den Müll rauszubringen (was irgendwie zu meiner Aufgabe geworden war) und um den Hund zu verscheuchen, der gar nicht daran dachte, zu verschwinden. Zu allem Überfluss hatte meine Mutter noch berichtet, wie sie neulich einen Topf Geranien zu Henrys Mutter bringen wollte, die aber nicht zu Hause war, und dass stattdessenein blondes Mädchen etwa in meinem Alter die Tür aufgemacht hatte.
Ich gab mir größte Mühe, nicht allzu viel darüber nachzudenken und cool zu bleiben. Konnte mir doch schnurzegal sein, ob Henry eine Freundin hatte. Trotzdem – mit diesem Wissen wurmten mich unsere beiden Begegnungen nachträglich noch viel mehr, und ich vermied eisern jeden Blick zum Nachbarhaus, weil es mich nicht interessieren durfte, ob er zu Hause war oder nicht.
Ich setzte mich an den Tisch und sah meinem Vater zu, wie er seine Unterlagen durchblätterte. Dabei überkam mich wieder dieses Gefühl von Platzangst, mit dem ich in letzter Zeit öfter zu kämpfen hatte – es war der Drang, rauszugehen, aber nicht zu wissen, wohin.
»Na, wie läuft’s bei dir?«, erkundigte sich mein Vater, und ich sah, dass er versuchte, mein Kreuzworträtsel verkehrt herum zu entziffern.
»Hier komm ich nicht weiter«, antwortete ich und tippte auf ein paar leere Kästchen. »Ein anderes
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