Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
so verbrachten wir die ersten drei Tage damit, unserem Vater überallhin zu folgen – für den Fall, dass er sich mit uns beschäftigen wollte. Nachdem wir das zwei Tage lang durchgezogen hatten, saßen wir alle zusammen am Tisch auf der Veranda und mein Vater arbeitete. Gelsey hockte über einer zerlesenen Autobiografie der Ballerina Suzanne Farrell . Ich hatte meine Zeitschrift dabei, von der ich inzwischen das spinnenverseuchte Deckblatt entfernt hatte. Und Warren studierte wie immer ein Lehrbuch. Obwohl wir alle mehr oder weniger mit Lesen beschäftigt waren, hoben wir umgehend den Kopf, sobald Dad von seiner Arbeit aufsah. Warren lächelte dann jedes Mal abnorm breit, und wir warteten hilflos darauf, dass uns jemand sagte, wie wir uns verhalten sollten. Aber allmählich dämmerte mir, dass die sogenannte Quality Time nicht umsonst so hieß und es dabei definitiv nicht darum ging, jede verfügbare Minute zusammenzuhocken.
In früheren Jahren hatten wir uns eigentlich nur bei Regen ins Haus zurückgezogen. Wie schon am Namen erkennbar, war Lake Phoenix ein hauptsächlich im Sommer bewohnter Ort an einem See, welcher mitsamt Strand die lokale Hauptattraktion darstellte. Außerdem gab es ein Freibad inklusive Rutsche, wo ich früher oft gewesen war. Darüber hinaus hatte der Ort eine Tennisanlage und einen Golfplatz zu bieten. Alles zusammen wirkte wie eine kuriose, ziemlich unspektakuläre Kombination aus Country Club und Sommersiedlung. Obwohl man nirgends millionenschwere Häuser oder Anwesen sah, waren Strand und Schwimmbad nur für zahlende Mitglieder zugänglich. Und da Lake Phoenix derart klein und abgelegen war, konnte man sich so vollkommen sicher fühlen, dass ich mich hier praktisch frei bewegen konnte, seit ich ungefähr sieben war. Für Kinder gab es einen Pendelbus, der vom Freizeitzentrum zum Schwimmbad und zum Strand fuhr. Allerdings hatte ich den nur selten benutzt, da ich meistens mit dem Fahrrad überall hinfuhr.
Früher war meine Mutter immer am Strand oder auf dem Tennisplatz gewesen, während mein Vater entweder an der frischen Luft arbeitete oder Golf spielte. Meine Geschwister und ich nahmen unterdessen an Tennis- oder Golfkursen teil, zu denen wir von unseren Eltern verdonnert wurden, oder wir vertrieben uns die Zeit im Schwimmbad oder am Strand. Erst zum Abendessen tauchten wir wieder zu Hause auf, aßen zusammen auf der Veranda und sahen von Tag zu Tag gebräunter aus. Nie und nimmer wären wir auf die Idee gekommen, bei schönstem Wetter den ganzen Tag im Haus zu hocken.
»Jetzt reicht’s aber!«, rief mein Vater, als er irgendwann aufschaute und wir ihn mal wieder alle drei anstarrten und Warren sein komisches Lächeln aufgesetzt hatte. »Ihr drei treibt mich noch in den Wahnsinn.«
Hilflos sah ich meinen Bruder an, der mir seinerseits einen fragenden Blick zuwarf. Ich wusste nicht so recht, was mein Vater eigentlich meinte, da ich mich ja total bemüht hatte, eben nichts zu tun, was ihn verärgern könnte. »Ähm«, sagte ich nach einer Weile, als klar wurde, dass meine Geschwister nicht in die Bresche springen würden, »was machen wir denn?«
»Ihr macht eben überhaupt nichts«, erklärte er gereizt. »Das ist ja das Problem. Ich kann es echt nicht gebrauchen, dass ihr mich den lieben langen Tag anstarrt. Da komme ich mir ja vor wie ein Versuchskarnickel. Oder – noch schlimmer – wie in einer Reality-Show.«
Ich sah, wie Warren den Mund öffnete, um etwas zu sagen, ihn dann aber wieder zuklappte – was ein weiterer Beweis dafür war, dass sich keiner von uns normal benahm. Denn Warren hatte ich wirklich noch nie sprachlos erlebt.
»Also«, sagte mein Vater schon wieder versöhnlicher, »ich weiß doch, dass ihr euch besondere Mühe geben wollt. Aber solange es noch geht, sollten wir den Sommer so normal wie möglich verbringen, okay?«
Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ein »normaler« Sommer aussehen sollte. In den letzten Jahren waren sieimmer so abgelaufen, dass wir kaum Zeit miteinander verbrachten.
»Na ja«, sagte Gelsey und setzte sich aufrecht hin, wobei ihre braunen Augen zu glänzen begannen, »was sollen wir denn sonst machen?«
»Was ihr wollt«, entgegnete er und streckte die Hände aus, »solange ihr nicht den ganzen Tag in der Bude rumhängt. Leute, es ist Sommer! Geht los und amüsiert euch!«
Darauf schien meine Schwester nur gewartet zu haben. Sie sprang auf, rannte ins Haus und fragte meine Mutter, ob sie zusammen an der Ballettstange
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